Hinter vorgehaltener Hand sprechen viele Psychiater das Dilemma ihrer Disziplin an: Die Psychiatrie heilt trotz aller möglichen Versuche kaum Patienten. Fachleute sprechen eher von Remission als Therapieziel. Also dem Zustand der Symptomfreiheit ohne Heilung. Doch selbst das wird bei vielen Krankheiten nur mit mässigem Erfolg erreicht: Bei schweren Depressionen liegt die Erfolgsrate für eine Remission oft nur bei Werten zwischen 40 und 70 Prozent. Denn die Patienten werden immer wieder rückfällig und die tatsächlichen Ursachen für psychische Erkrankungen sind nach wie vor unverstanden.
Bei vielen psychischen Leiden kann man sich noch nicht mal auf eine Diagnose einigen. Wie viele Studien zeigen, bewerten renommierte Fachärzte den gleichen Testpatienten häufig ganz unterschiedlich. Ein Experiment mit zwei Schizophrenie-Testpatienten fand letztes Jahr etwa heraus, dass nur 33 Prozent der international anerkannten Spezialisten den Patienten die gleiche, richtige Diagnose zuordneten – und das, obwohl sie moderne Untersuchungsmethoden verwendeten.
Während in anderen Fachgebieten rapide Fortschritte erzielt werden, steckt die Psychiatrie schon länger in einer Sinnkrise. Ausser neuen Antidepressiva oder Antipsychotika, die weniger Nebenwirkungen haben, aber keine Ursachen bekämpfen, brachte sie zuletzt kaum Bahnbrechendes hervor. Das war noch Anfang des letzten Jahrhunderts anders, als mit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung die beiden grössten Vertreter ihrer Zunft ihre Thesen aufstellten.
Eine Erklärung dafür ist, dass sich die universitäre Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten – beeinflusst von den Naturwissenschaften – zu fest auf biologistische Erklärungsversuche fokussierte. Es gilt zwar in der Theorie heute offiziell das weit gefasste biopsychosoziale Modell. In der Praxis herrschen aber vor allem biologisch begründete Therapieansätze vor. Etwa die Idee, irgendwann mit Medikamenten alle Arten von psychischen Krankheiten heilen zu können. Oder mit Erkenntnissen aus der Neurologie und Verhaltensforschung die kranke Psyche erklären zu können.
Die Entwicklungen sorgten jedenfalls dafür, dass die Hypothesen der beiden alten Granden Freud und Jung immer mehr zur Seite gelegt wurden und sich der Mainstream eigenen Thesen und Behandlungsversuchen zuwandte. Grund dafür ist besonders im Fall des Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung auch, dass viele seiner Konzepte so abstrakt sind, dass man sie nicht beweisen oder falsifizieren kann. Und dass Jung sie nicht mithilfe von klassisch naturwissenschaftlichen Methoden fand – sondern durch Beobachtung und Selbstreflexion. Eine Antithese zur etablierten Herangehensweise der modernen Forschung, die am liebsten mit kontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien arbeitet.
Nun erleben manche der Ideen von Jung plötzlich ein überraschendes Revival, gestützt just von der Forschergemeinde, die seine Thesen wegen der mangelnden Wissenschaftlichkeit ursprünglich für untauglich erklärt hatte. Sehen lässt sich das etwa an Jungs vielleicht wichtigster These, dem kollektiven Unbewussten. Jung war der Ansicht, dass es psychische Begebenheiten gibt, die alle Menschen gemeinsam besitzen. Quasi einen Pool an psychisch festgeschriebenen Verhaltensweisen, die den Menschen innewohnen und von einer Generation auf die nächste vererbbar sind.
Das mag erst einmal spirituell-verrückt klingen. Doch einige heute auch an Universitäten etablierte Lehren der evolutionären Psychologie postulieren ein ähnliches Konzept mit angeborenen psychischen Merkmalen, die evolutionär entstanden sind. Und der junge Forschungszweig der Epigenetik beweist plötzlich, dass psychische Extremerfahrungen wie etwa ein Leiderlebnis im Holocaust nicht nur die Generation beeinflussen, welche die Situation erlebt hat. Sondern via epigenetische Mechanismen an die Nachkommen vererbt werden.
Kurz zusammengefasst: Weite Teile von dem, was Jung mit seinen Archetypen symbolisch beschrieb, beschreibt die evolutionäre Psychologie heute funktional-biologisch. Seit einigen Jahren versuchen manche Autoren deshalb, Jungs Thesen mit empirischen Erkenntnissen zu vereinen und endlich die Entschlüsselung der menschlichen Psyche möglich zu machen.
Die zweite grosse These Jungs betrifft die aus der Mode gekommene analytische Psychologie, die heute in unterschiedlicher Form in die vier grossen etablierten Therapieverfahren einfliesst. Jung proklamierte, dass das Unbewusste einen grösseren Einfluss auf unser bewusstes Handeln hat, als man das an den Universitäten dachte. Er nahm an, dass sich die Lebenssituation Betroffener verbessern würde, wenn der Therapeut ihnen mithilfe von Traumanalyse, Imagination und Gesprächen die unbewussten Teile ihrer Persönlichkeit bewusst macht.
Dies und das Konzept der Individuation – der Menschwerdung durch Konfliktbewältigung – gelten heute als Grundprinzipien der Psychiatrie, die von vielen neuen Denkschulen als grundlegende Therapiemechanismen verwendet werden. «Dabei verweist aber kaum jemand auf Carl Gustav Jung», erklärt die erfahrene Psychotherapeutin Verena Kast, die als bekannteste Jungianerin der Schweiz gilt.
Professorin Kast ist überzeugt, «dass eine möglichst gute, patientengerechte Behandlung die Lehren aus der Biologie, aber auch die Ideen zur Psyche im Sinne von Carl Gustav Jung braucht». Dieser kombinierte Ansatz erfordere aber viel Patientenarbeit und vor allem viel Zeit, was im aktuellen Klinikalltag nur bedingt vorhanden ist. Und deshalb kaum genutzt wird.
Dennoch sind manche von Jungs Ideen auch heute noch aktuell. «Die heute sehr populären kreativen Behandlungsansätze, wie zum Beispiel die Maltherapie, beruhen im Kern auf Jungs Erkenntnissen», erklärt Kast. Und verweist auch auf Jungs progressive Sichtweise auf die Geschlechter. «Jung sah schon Anfang des letzten Jahrhunderts, dass jeder Mensch weibliche und männliche Persönlichkeitsmerkmale besitzt. Er erklärte das mit dem Konzept der Archetypen Anima und Animus.» Dies deckt sich mit der modernen psychiatrischen Sichtweise, dass «Geschlecht» ein Spektrum ist.
Neben diesen abstrakteren Ideen hatten manche Ideen des Schweizer Psychiaters so durchschlagenden Erfolg, dass die Welt vergessen hat, wer eigentlich ihr Urheber ist. So war C. G. Jung etwa der Erste, der das heute allgegenwärtige Konzept der «Komplexe» ergründete. Auch die Idee von Introversion oder Extroversion als Hilfsmittel, um Persönlichkeitsstrukturen einzuschätzen, stammt aus der Feder des Küsnachters und ist heute Teil jedes psychiatrischen Persönlichkeitsgutachtens.
Jungs ideelles Erbe lebt damit auch 64 Jahre nach seinem Tod weiter – wenn auch in neu verpackter Form. Gute Ideen bleiben eben für immer Jung. (aargauerzeitung.ch)
Dafür braucht es jedoch ein grundlegendes Umdenken in unserer Lebensweise. Doch genau das empfinden viele als "woke" – bis sie selbst betroffen sind.
Psychische Erkrankungen sind halt leider immer noch von grossen Tabus und Missverständnissen umgeben.
Zudem erwecken Zahlen den verführerischen Eindruck von Objektivität, obwohl die Interpretation weiterhin unterschiedlich ausfallen kann.
Was zudem für die ganze moderne Medizin gilt: Sprechende Medizin muss zum Standard werden. Auch hier wieder zeigt die Psychiatrie das Problem nur am offensichtlichsten auf.