Immer mehr Menschen erhalten eine Diagnose für eine psychische Erkrankung. Was für viele Betroffene eine Erleichterung ist, wird von bestimmten politischen Lagern als besorgniserregende Entwicklung dargestellt.
In den letzten Jahren hat sich diese Debatte zugespitzt: Konservative, wirtschaftsliberale und rechte Kreise argumentieren, dass psychische Diagnosen zunehmend als «Freifahrtschein zur Opferrolle» genutzt werden. In Deutschland und der Schweiz wird von der AfD und der SVP das Narrativ um die «Opfermentalität» verbreitet.
Dazu tauchen in verschiedenen Medien Schlagzeilen auf, die suggerieren, dass psychische Erkrankungen vor allem linke, junge Frauen betreffen:
Solche pauschalisierenden Aussagen über linke Frauen verwirren – und zwar mit Absicht. Was steckt wirklich dahinter?
Diese Aussagen vermitteln das Bild, dass psychische Diagnosen vor allem dazu dienen, sich in eine Opferrolle zu begeben – und dem Staat die Schuld und Verantwortung für alles zu geben.
Doch die Behauptung, dass es «zu viele Diagnosen» gibt, ist ein bewusst gesetztes Framing mit einem politischen Ziel. Es geht nicht um eine neutrale Analyse der psychischen Gesundheitsversorgung, sondern um eine Strategie, um strukturelle Probleme zu entpolitisieren. Denn wenn psychische Belastung einzig als individuelles Problem dargestellt wird, rücken gesellschaftliche Ursachen wie Armut, soziale Ungleichheit oder überhöhter Leistungsdruck in den Hintergrund.
Konservative und wirtschaftsliberale Kreise betonen häufig, dass Eigenverantwortung und Selbstdisziplin der Schlüssel zum Erfolg seien – anstatt gesellschaftliche Veränderungen oder mehr Chancengleichheit zu fordern. Sondern das Argument wird genutzt, um soziale Sicherungssysteme zu hinterfragen – von der obligatorischen Krankenversicherung bis hin zu Arbeitslosengeld und Krankentaggeld. Die Begründung: «Menschen holen sich Diagnosen, um sich vor der Arbeit zu drücken und dem Staat auf der Tasche zu liegen.»
Damit wird nicht nur ein Generalverdacht gegen psychisch Erkrankte geschürt, sondern auch die Stigmatisierung aufrechterhalten: Wer Hilfe braucht, ist nicht krank, man ist schwach oder faul. Dieses Narrativ dient jenen, die kein Interesse an gesellschaftlicher Veränderung haben, und schadet denen, die das fordern.
Das erklärt auch, warum sich der Vorwurf bewusst gegen «linke Frauen» richtet, die eine «Opferkultur pflegen» sollen. Weil konservative Kreise psychische Gesundheit als eine gesellschaftliche Entwicklung betrachten, die traditionelle Machtstrukturen infrage stellt. Frauen, junge Menschen und marginalisierte Gruppen fordern mehr Rechte, sprechen über Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.
Sie hinterfragen bestehende Machtverhältnisse – ein Umstand, der jenen missfällt, die von diesen Strukturen profitieren. Der «alte weisse Mann», der in diesen Debatten oft als Gegenbild herangezogen wird, soll dabei als Symbol für Widerstand gegen eine «überzogene und woke Sensibilisierung» stehen.
Dass ältere Männer seltener als psychisch krank diagnostiziert werden, liegt nicht unbedingt daran, dass sie weniger betroffen sind. Vielmehr sind sie in einer Zeit aufgewachsen, in der psychische Erkrankungen noch stärker stigmatisiert wurden als heute. Jüngere Generationen sprechen offener über psychische Belastungen und suchen Hilfe.
Natürlich gibt es Fälle, in denen Diagnosen vorschnell gestellt werden. Und es gibt auch Menschen, die ihre Probleme nicht eigenständig angehen. Doch belastbare Zahlen zu Fehldiagnosen in der Psychiatrie gibt es nicht – weder in der Schweiz noch international. Was es gibt, sind Zahlen aus der Allgemein- und Notfallmedizin: Laut der Landesärztekammer Hessen liegt die Fehlerquote bei Diagnosen hier international zwischen 10 und 15 Prozent.
Mithilfe dieser fehlenden Datenlage eine ideologische Kritik an der gesamten Entwicklung psychischer Diagnosen zu üben, ist gefährlich. Es lenkt von den eigentlichen Ursachen psychischer Belastung ab. Die Frage ist nicht, ob es zu viele Diagnosen gibt – sondern, warum so viele Menschen sich überhaupt belastet fühlen. Und wer hier ehrlich ist, wird feststellen, dass die Ursachen oft tief in gesellschaftlichen Missständen wie sozialer Ungleichheit, überhöhtem Leistungsdruck, rigiden Geschlechterrollen und wirtschaftlicher Unsicherheit liegen.
Die Debatte über «zu viele Diagnosen» ist keine harmlose Diskussion, sondern eine gezielte politische Strategie zur Bewahrung des Status quo. Sie wird genutzt, um Sozialleistungen infrage zu stellen, Betroffene zu diskreditieren und progressive Forderungen nach Veränderung zu delegitimieren.
Letztlich geht es darum, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen: Eine, in der Menschen mehr Verständnis und Hilfe bekommen, um als Gesellschaft gemeinsam weiterzukommen. Oder eine, in der Menschen alleine gelassen werden, wenn sie es aus eigenem Antrieb nicht schaffen.
Offenbar müssten viele (leider) selber mal eine üble Erfahrung machen um das zu verstehen.
Andererseits: Auch wenn man selbst sich noch nie ein Bein gebrochen hat, ist klar das man Mitgefühl zeigt, wenn jemand ein Bein bricht.
Ist es wirklich so schwer?
Menschen, die Hilfe brauchen, brauchen Hilfe. Ob links rechts schräg hemaphrodit...was auch immer! Jeder Mensch sollte partizipieren können,im Rahmen seiner Möglichkeiten und dafür braucht es manchmal halt Hilfe.
Um es auf die Spitze zu treiben, führe ich gerne meine Mutter und mich ins Feld... Sie, konservativ,eher rechts, wohlhabend, gebildet und völlig lebensunfähig, fühlt sich seit Jahrzehnten"sehr wohl" in der Opferrolle.
Ich, links, neurodivergent... erfolgreich, Mami, berufstätig, Leben sehr im Griff.