Das Coronavirus beherrscht unseren Alltag. Das letzte ähnliche Ereignis war die Spanische Grippe 1918. Wie ging die Schweiz damals mit der Seuche um?
Flurin Condrau: Die Spanische Grippe forderte in der Schweiz knapp 25'000 Todesopfer, fiel jedoch in die Zeit des Landesstreiks. Der Bundesrat gab den streikenden Arbeitern die Schuld am Ausbruch. Diese beschuldigten die Regierung, weil sie die Armee mobilisiert hatte und so die Verbreitung begünstigt haben soll. Interessanterweise wurde die Pandemie aber nicht primär als Herausforderung für die Gesundheitspolitik wahrgenommen.
Das war 50 Jahre zuvor anders. Die Cholera suchte die Schweiz heim.
Es gab zwei Ausbrüche der Cholera in der Schweiz während des 19. Jahrhundert. Der erste verlief eher mild. Der zweite Ausbruch 1867 hingegen setzte beispielsweise im Kanton Zürich Vieles in Bewegung. Das lag daran, dass gesellschaftliche Kreise der Epidemie eine politische Bedeutung gaben. Die Seuche wurde zum Argument im politischen Kampf. Die Cholera sorgte in Zürich für eine gesellschaftliche Krise, was sich kaum durch die 480 Opfer der Krankheit erklären lässt.
Woran lag das?
Die Demokratische Bewegung sah die Cholera als Sinnbild eins grundlegend kranken Systems. An der Cholera starben deutlich mehr Ärmere als Menschen aus der Oberschicht. Dieses Mal konnte die Obrigkeit das nicht mehr einfach abschreiben. Die soziale Frage gewann an politischer Bedeutung. Die Cholera führte zu einer neuen Kantonsverfassung, der Gründung der Kantonalbank und beschnitt den Einfluss der bürgerlichen Elite.
Die Wirtschaft wehrte sich schon damals gegen Restriktionen.
Die Stadt Zürich forderte etwa einzelne Firmen auf, die Aborte zu schliessen. Das stiess auf heftige Gegenwehr. Die Fabrikanten argumentierten, sie könnten sich das nicht leisten und müssten dann den ganzen Betrieb schliessen. Auch eine Abschottung wurde ausgeschlossen, um den Handel nicht zu gefährden. Zum Glück für Zürich war der Ausbruch insgesamt aber nicht so heftig wie etwa jener später in Hamburg.
Dort wütete die Cholera 1892 heftig, erst Robert Koch brachte sie unter Kontrolle. Wie lange brauchte die Stadt, um sich wirtschaftlich zu erholen?
Das ging tatsächlich sehr schnell. Hamburgs Wirtschaft kollabierte praktisch im Jahr 1892 und erreichte Ende 1893 schon wieder das Vorkrisenniveau. Damit lässt sich eine Parallele zur Spanischen Grippe ziehen: Diese grossen Ausbrüche wurden im Alltag der Menschen erstaunlich schnell wieder vergessen. Das war wohl auch schon bei der Pest, die als Bevölkerungskrise ungleich dramatischer verlief, nicht anders.
Wie erklären Sie sich das?
Nehmen wir das Beispiel Basel. Felix Platter (1536-1614), der damalige Stadtarzt und Professor an der Universität, beobachte in seiner Amtszeit nicht weniger als sieben Pestausbrüche. Das bedeutet, dass in der damaligen Zeit regelmässige Ausbrüche der Pest letztlich dann keine Überraschung mehr waren. Dadurch wird eine Seuche auch normalisiert, das heisst sie stellt kein so besonderes Ereignis mehr dar. Das ist heute, wo fast jede Person in der Schweiz damit rechnen darf, das Pensionsalter zu erreichen, vielleicht etwas anders geworden.
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Welchen Einfluss hatten Epidemien wie die Pest auf die wirtschaftliche Situation der Städte?
Zunächst einmal war die Pest eine Bevölkerungskrise. An einer Epidemie konnten bis zur Hälfte der Bevölkerung sterben. Für die Landschaften bedeutete das eine Katastrophe, weil damit die Böden oft nicht mehr bewirtschaftet werden konnten. Das Stadtrecht und die Zünfte erlaubten es diesen hingegen, Bevölkerungsverluste rasch durch Zuwanderung auszugleichen. Auch von Judenpogromen, also Gräueltaten gegen die Mitglieder der jüdischen Gemeinden, denen oft die Schuld gegeben wurde, profitierten die Zünfte. In Zürich etwa wurden sie so auf einen Schlag ihre Schulden los.
Welche Lehren könnten wir aus früheren Epidemien ziehen?
Pandemien waren immer schon ein Stresstest für die betroffenen Städte, Regionen oder Länder. Eine stabile Gesellschaft hat vermutlich weniger Probleme bei der Bewältigung einer Pandemie, weil sie diesen Test besteht. Im Frühling dieses Jahres traf das meiner Meinung nach auch auf die Schweiz zu: Es war einerseits aussergewöhnlich und neuartig, den «Lockdown» zu erleben, aber insgesamt kamen wir da recht gut durch.
Ist das immer noch so?
Jetzt, bei der zweiten Welle, ist die Frage: Bleibt die Schweiz so stabil? Oder gibt es eine politische Kraft, welche die Epidemie wie damals bei der Cholera als Missstand aufgreift? Die Experten waren sich längst einig, dass es ziemlich sicher zur jetzigen Situation mit der zweiten Welle kommt, aber es scheint, als ob nicht alle Behörden gleich gut auf diese Entwicklung vorbereitet waren. Ob sich das aber tatsächlich zu einer Gesellschaftskrise auswächst, wird sich erst noch zeigen. Im Frühjahr werden wir mehr wissen.
Teilen Sie den Eindruck, dass die Behörden Vertrauen verspielt haben? Die Schweiz steht schlechter da als fast alle anderen Länder Europas.
Vertrauensverlust ist ein grosses Wort. Dass über die Behörden geschimpft wird, ist normal. Sicher ist es nicht ganz einfach, in einem so föderalen Land wie der Schweiz die Bekämpfung der Pandemie zu organisieren. Meiner Ansicht nach besteht die föderale Schweiz diesen Stresstest der Pandemie eher schlecht.
Woran liegt das?
Niemandem wäre im Zweiten Weltkrieg eingefallen, die Verdunkelung den Gemeinden und Kantonen zu überlassen. Ich bin nicht sicher, dass die Verwaltung, die Politik und wichtige gesellschaftliche Kreise schon verstanden haben, dass man eine Pandemie nicht in der Freizeit bewältigt, sondern dass darin eine echte, grosse Herausforderung besteht.
Können Sie ein Beispiel geben?
Dass jeder Kanton beim Contact Tracing eine andere Datenbank nutzte, eigene Teams zusammenstellte und eigene Pläne für die Pandemiebekämpfung entwarf, scheint mir ein Zeichen des Föderalismus zu sein. Darüber hinaus deutet das auch darauf hin, dass die Verwaltung in der Schweiz in der Durchsetzung von Standards und der Entscheidungsfindung oftmals noch mit einem Augenzwinkern betrieben wird. Manche Kantone sahen es etwas locker mit der Pandemie. Oftmals herrscht ja auch die Haltung vor, dass man es in kleineren Gemeinden auf dem Land mit der Kontrolle nicht so genau nehmen muss, weil dort sowieso jeder jeden kennt.
Die Behörden wirkten in der Pandemie überfordert. Woran liegt das?
Einige Akteure denken offenbar gewisse Dinge nicht ganz bis zum Ende durch. Die Pandemieplanung beispielsweise plante bis und mit «Lockdown» voraus, hatte aber praktisch keine Vorstellung davon, wie man die Öffnung dann organisiert.
Auch die Zweite Welle schien schlecht vorbereitet.
Ein Beispiel ist, dass der Kanton Zürich das Contact Tracing viel zu klein geplant hatte und dann schnell überfordert war. Mittlerweile ist es teils an eine private Firma ausgelagert worden und man darf zumindest die Frage stellen, wie erfolgreich diese tatsächlich ist. Dabei weiss man seit der Tuberkulose, wie wichtig das Contact Tracing ist. Es ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel, warum so viele Kantone in der Schweiz nicht in der Lage waren, auf bereits ausgebauten Strukturen aufzubauen.
In der Schweiz herrschen aber auch andere Bedingungen vor als in anderen Ländern.
Das stimmt. Die Schweiz hat Grenzen zu fünf Ländern, ist ein Transitland und lebt stark von Tourismus und Migration. Wir haben kein Meer als natürliche Barriere. Ich würde darum noch keine abschliessende Beurteilung der Strategien wagen.
Während Deutschland bei viel tieferen Fallzahlen schon harte Massnahmen verhängte, liess sich der Bundesrat viel Zeit dafür. Wie erklären Sie sich das?
In der Schweiz wurde die Einbindung der Bevölkerung schon immer stärker gewichtet als die «Vernunft» des Entscheids. Der Bundesrat will nur so viel vorschreiben, wie er glaubt, durchsetzen zu können. Er will also die Bevölkerung hinter sich wissen, wenn er Massnahmen erlässt. Umgekehrt legitimiert erst die Zustimmung der Bevölkerung politisches Handeln. Das zeigte sich jüngst etwa bei den Kampfjets. In keinem anderen mir bekannten Land Europas würde man darüber abstimmen.
Warum gibt es diese Mechanismen?
Für uns in der Schweiz ist es immer wieder wichtig, diese Zustimmung und damit die Legitimation für politisches Handeln zu haben. In einer Pandemie kommt dieser Mechanismus an seine Grenzen, weil dafür die Zeit fehlt. Der Bundesrat handelt nie prognostisch, sondern immer reaktiv. Es ist verständlich, dass er die Bevölkerung mitnehmen will, aber es kostet eben auch Zeit. Und Zeit ist bei der Pandemiebekämpfung besonders kostbar.
Plädieren Sie für eine autoritärere Führung in der Krise?
Dass China die Pandemie besser bekämpft als fast alle anderen Länder, ist wohl keine Diskussion mehr wert. Aber selbst das demokratische Neuseeland hat die Armee mobilisiert, um die Quarantäneeinrichtungen zu überwachen. Auch Südkorea hat seinen Sicherheitsapparat mobilisiert, um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Im Kern zeigen die erfolgreicheren Länder, wie wichtig es ist, dass Quarantäne- und Isolationsmassnahmen, aber auch grossflächiges Contact Tracing durchgesetzt wird. Sonst bringen sie nichts. Zentralregierungen und autoritäre Staaten haben es da natürlich einfacher.
Wünschen Sie sich chinesische Verhältnisse in der Schweiz?
Natürlich nicht. Ich hätte mir schon eine etwas proaktivere Führung gewünscht. Es überrascht mich aber auch nicht, dass die Schweiz nicht besonders gut dasteht, wenn es um die Bekämpfung der Pandemie geht. Das Schweizer Gesundheitswesen ist eines der teuersten der Welt. Teuer wird ein Gesundheitswesen vor allem durch kostspielige Therapien. Mit unserer teuren Medizin haben wir wohl zu wenig auf Public Health gesetzt. Das rächt sich jetzt.
In der Schweiz gibt es viele exzellente Fachleute.
Wir haben viele Virologen und Labors, aber relativ wenige, die sich wirklich um die öffentliche Gesundheit kümmern. Das erklärt wenigstens zum Teil, warum wir fast blind in die Öffnungen hineingestolpert sind. Die Hauptfrage wurde gar nie gestellt: Was passiert, wenn ein grosser Teil der Schweizer krank ist? Wer füllt dann die Gestelle, wer arbeitet im Spital, wer liefert das Benzin an die Tankstelle? Gesundheit ist die Voraussetzung, überhaupt am Markt teilzunehmen. Das ging etwas vergessen.
Ein autoritärer Zugriff kann gefährlich sein. Robert Koch war ein erfolgreicher Seuchenbekämpfer, wurde aber später von den Nationalsozialisten instrumentalisiert. Können wir der Gesundheit alles unterordnen?
Das ist die falsche Frage. Gesundheit ist die Voraussetzung zur Partizipation. Weder Arbeit noch Konsum oder Kultur funktionieren ohne Gesundheit. Sie ist das wichtigste Kapital, das jeder und jede von uns braucht. Der Gesundheitsschutz ist eine zentrale Staatsaufgabe, weil ohne Gesundheit ein Gemeinwesen nicht funktionieren kann. Gefährlich wird es, wenn ein autoritärer Staat die Kontrolle darüber hat. Dann können plötzlich alle möglichen Massnahmen unter dem Deckmantel der Gesundheit verordnet werden. Robert Koch war vom Wesen her preussisch geprägt und dachte letztlich autoritär. Übrigens waren auch auffallend viele Mediziner begeisterte Nationalsozialisten, weil sie den autoritären Stil für ihre Zwecke schätzten.
Wie könnten wir eine Pandemie als Demokratie besser bewältigen?
Unsere politische Entscheidungskultur muss schneller werden. Die Wichtigkeit von raschen Entscheiden wurde unterschätzt – auch wenn das Problem bekannt war. Wir haben 2012 über das Epidemiengesetz abgestimmt, weil klar war, dass dem Bund in einer Epidemie Kompetenzen fehlen. Aber sonst? Schutzmaterial wurde ja offenbar in den letzten Jahren sogar abgebaut. Ein wichtiges Element war die wissenschaftliche Taskforce – eigentlich bräuchte es die schon lang. Warum sonst leisten wir uns so viele Experten, wenn sie nicht angehört werden?
Wie beurteilen Sie die Kommunikation der Behörden?
Ihre Rolle scheint mir zentral. Mir handeln die Behörden immer noch zu sehr orientiert auf die typische Zuschauerschaft von SRF, die typischerweise etwas älter ist und abends noch aufs Sofa sitzt. Aber wer die Jungen erreichen will, wird andere Kanäle suchen müssen. Das BAG weiss das und hat auch etwas korrigiert. Aber in der Kommunikation haben unsere Behörden und auch wir Experten noch viel zu lernen.
Rekorde bei den Corona-Fallzahlen verzeichnen auch die USA – ein Land, in dem nach der Präsidentschaftswahl die Gräben tief sind.
Die USA sind ein wahnsinnig interessanter Fall. Ich glaube, dort ist der Zustand einer umfassenden Gesellschaftskrise tatsächlich erreicht. Das Land steht vor grossen Fragen: Welche Aufgaben hat das Verfassungsgericht? Welcher politische Stil ist mehrheitsfähig? Wer darf überhaupt wählen? Vor diesem Hintergrund spielt die Gesundheitskrise, die sich nun mit Corona manifestiert, eine grosse Rolle, weil sie so erst eine Sprengkraft erreicht, die hierzulande noch nicht denkbar ist.
Werden wir Corona in 20 Jahren mit einer Zäsur in den USA in Verbindung bringen?
Ich halte es für gut möglich, dass Corona den Zeitpunkt markiert, zu dem die wirtschaftliche Überlegenheit Chinas Tatsache wird und der den Abstieg der USA als wirtschaftliche Supermacht besiegelt. Die Corona-Krise könnte das chinesische Zeitalter einläuten, denn zumindest in Europa und in den USA trifft Corona auf Gesellschaften im Abwehrkampf. Ich würde behaupten, dass die Pandemie dort besonders harte Folgen hat, wo Verlustängste die Gesellschaft bereits belasten.
Corona wird irgendwann vorüber sein. Wie können wir eine nächste Pandemie verhindern?
Verhindern wird man Pandemien nicht können. Man kann sich einerseits besser auf sie vorbereiten. Andererseits ist die Frage, ob man die Häufigkeit von Pandemien begrenzen kann. Dabei scheint mir die grosse Frage zu sein, wie wir mit unserer Welt umgehen. Das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt und zu den vielen Tierarten ist zentral. Coronaviren überspringen schliesslich von dort auf die Menschen. Diese Diskussion steht uns bevor. Ich glaube aber leider nicht, dass wir im Westen schon bereit sind, auf einen Teil unseres Wohlstands zu verzichten, um die Umwelt zu schützen. Corona, so meine ich, dürfte langfristig als Hauptprobe für die Auseinandersetzungen rund um den Klimawandel angesehen werden.
Ich wundere mich schon lange über die äusserst schlechte Kommunikation. Wo sind denn die ganzen Softskillers die "etwas mit Medien und Kommunikation machen wollen" jetzt?
Ansonsten hätte man im Sommer die einzelnen Fällen viel entschiedener in Quarantäne setzen müssen
Insbesonders folgende Aussage sollte jenen endlich mal einleuchten, die ununterbrochen darüber lamentieren, dass die Massnahmen völlig übertrieben seien und für deren Abschaffung plädieren
"Gesundheit ist die Voraussetzung zur Partizipation. Weder Arbeit noch Konsum oder Kultur funktionieren ohne Gesundheit. Sie ist das wichtigste Kapital, das jeder und jede von uns braucht. Der Gesundheitsschutz ist eine zentrale Staatsaufgabe, weil ohne Gesundheit ein Gemeinwesen nicht funktionieren kann."