Frau Purtschert, erstaunt es Sie, dass gerade jetzt nach der Schweizer Kolonialgeschichte gefragt wird?
Patricia Purtschert: Nein, ich denke das ist die Frage, die jetzt gestellt werden muss. Sie ist wichtig, um einzuordnen, was gerade passiert. Denn Black Lives Matter, das Thematisieren von Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen, hat sehr viel mit der Kolonialgeschichte zu tun, auch mit derjenigen der Schweiz. Obwohl die «koloniale Schweiz» lange ein undenkbarer Begriff war, weil die Schweiz formal keine Kolonialmacht war.
Warum war sie denn keine?
Man kam zum Schluss, dass sich die Schweiz, weil sie keinen Meerzugang hat, nicht dafür eignet. Zudem haben Schweizer Politiker und die Handelsvertreter schnell gemerkt, dass es profitabel ist, wenn man sich indirekt am kolonialen Handel beteiligt, ohne selbst Eroberungskriege zu führen oder ein Heer zu stellen. Die Schweiz hat schon damals vorgelebt, was seit dem formalen Ende des Kolonialismus gilt: Man muss nicht die politische Herrschaft beanspruchen und kann trotzdem ungleiche Strukturen entwickeln, die den wirtschaftlichen Profit aus dem Süden zum allergrössten Teilen dem Norden zugute kommen lassen.
Die Schweizer Kolonialgeschichte war, wie bei vielen Schülerinnen und Schülern, nicht Teil meines Geschichtsunterrichts. Warum eigentlich nicht? Wieso tut sich unser Land so schwer damit, über die Rolle während der Kolonialzeit zu sprechen?
In Westeuropa wird davon ausgegangen, dass die eigene Geschichte die einzig relevante ist. Alles, was wir über die Vergangenheit lernen müssen, zeige sich an ihr: Modernisierung, Demokratisierung, Industrialisierung. Die restlichen Weltregionen haben dann einfach «imitiert», was der Westen vorgemacht hat. Die Globalgeschichte zeigt, dass diese Vorstellung völlig falsch ist. In der Schweiz akzentuiert sich eine solche eurozentrische Nabelschau noch. Bei uns ist das Bewusstsein noch weniger vorhanden, als an anderen Orten. Wir können die Geschichte dieses Landes nicht verstehen, ohne dass wir seinen Verwicklungen in den Kolonialismus Beachtung schenken. Gerne nimmt man auch hier die Schweizer Neutralität zu Hilfe.
Wie meinen Sie das?
Angeblich war die Schweiz weder Kolonialmacht noch Kolonie und hatte darum nichts mit dem Kolonialismus zu tun. Das kann als «koloniale Amnesie» bezeichnet werden, als aktives Vergessen-machen der eigenen Kolonialgeschichte. Diese Amnesie schlägt sich auch im Geschichtsunterricht wieder und wird auf diese Weise von Generation zu Generation weitergegeben.
Es bräuchte also eine Aufarbeitung der Rolle der Schweiz während des Kolonialismus.
Auch gegen die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg gab es sehr viel Widerstand. Aber irgendwann wurde verstanden, dass die Schweiz zu Europa gehört und keine Insel ist. Nun geht es darum, zu erkennen, dass die Schweiz auch zu einer globalisierten Welt gehört, und dazu gehört der Kolonialismus. Die Schweizer Beteiligung am Kolonialismus war sehr viel stärker, als viele annehmen. Es gilt, das anzuerkennen und die Folgen zu verstehen, die das bis hinein in unsere Gegenwart hat. Das steht noch viel Arbeit an allen Ecken und Enden an; in der Politik, Bildung, Kultur und in den Medien.
Was sagen Sie zur Diskussion, Statuen, wie die von Alfred Escher zu entfernen, dessen Vater und Onkel in den Sklavenhandel verwickelt waren?
Die Forderung, bestimmte Denkmäler zu entfernen, kann ich nachvollziehen. Es ist eine Zumutung für Rassismusbetroffene, im öffentlichen Raum ständig auf rassistische Darstellungen zu stossen. Man muss erkennen, was für Verletzungen diese Symbole immer wieder bewirken. Gleichzeitig ist es auch richtig, sie zu entfernen, damit wir Weissen nicht immer unsere kolonialen Überlegenheitsvorstellungen vorgeführt kriegen. Unsere Aufgabe besteht ja genau darin, diese zu verlernen. Vom Berner Rapper Nativ kommt der Vorschlag, solche Denkmäler in ein Museum zu stellen.
Wie finden Sie diesen Vorschlag?
Ich finde das eine gute Idee. Es könnte ein «Koloniales Museum der Schweiz» gegründet werden, in dem diese Gegenstände stehen und von allen, die sich mit dieser Geschichte auseinandersetzen wollen, betrachtet werden können. Das ist etwas ganz anderes, als wenn sie im öffentlichen Raum stehen.
Zurück zur Schweizer Kolonialgeschichte: Wie genau war die Schweiz im Kolonialismus verwickelt?
Einerseits war da der kolonialen Handel: Es gab nicht wenige Schweizer Handelshäuser, die in den Sklavenhandel verwickelt waren und damit viel Geld gemacht haben. Einige besassen Sklaven auf ihren Plantagen in Übersee, und einige dieser versklavten Menschen wurden sogar in die Schweiz verschleppt. Weiter waren Schweizer Söldner an unterschiedlichen kolonialen Eroberungskriegen beteiligt, etwa in französischen oder holländischen Heeren. Hinzukommt die Wissenschaft: Schweizer Wissenschaftler, in erster Linie Männer, waren an kolonialen Expeditionen beteiligt. Schweizer Forscher haben bei der Rassenforschung an vorderster Front mitgearbeitet.
Woran wurde geforscht?
Im frühen 20. Jahrhundert spielte die Universität Zürich eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Techniken zur Vermessung von Menschen, die global eingesetzt wurden. Und natürlich waren da die Missionen, welche in der Schweizer Bevölkerung stark verankert waren. Sie haben mit Bildern von anderen Weltteilen über Missionszeitschriften oder Missionsanlässe die Sichtweise einer breite Bevölkerung geprägt. Der entmenschlichende Blick auf Schwarze Menschen, der die Sklaverei und den Kolonialismus hervorgebracht hat, fand durch all diese Kanäle auch Eingang in die Schweiz.
Von welchen Bildern sprechen Sie genau?
Die koloniale Vorstellung von Menschen, die angeblich nicht so entwickelt sind wie wir. Sie zirkulierten in der Schweizer Populärkultur durch Bücher, Zeitschriften, Werbematerial oder Filme. Ein gutes Beispiel sind auch die Völkerschauen, die bis in die 1960er-Jahre in der Schweiz stattgefunden haben, manchmal sogar im Zoo. Dort wurden People of Colour ausgestellt und zu Objekten gemacht, die man betrachten und bestaunen konnte. Weisse Schweizerinnen und Schweizer übten dadurch ein, dass ein ganz anderer Umgang mit Menschen möglich ist, als der, den sie selbst für sich in Anspruch nahmen. Diese Kluft zwischen der modernen Vorstellung vom Menschen als Individuum mit einem Anrecht auf Freiheit, Würde und Partizipation und dem Umgang mit bestimmten Menschen, denen diese Rechte radikal abgesprochen wird, das ist die Folge von Rassismus. Sie ist bis heute Teil unseres Selbstverständnisses, auch in der Schweiz.
Inwiefern?
Die Abgrenzung zwischen angeblich primitiven und kolonialisierten und weissen und zivilisierten Lebensweisen hat unser Nationalverständnis und unser Selbstbild geprägt, gerade im späten 19. Jahrhundert. Ganz simpel zeigt sich dies in der Frage heute im «Woher kommst du?», die People of Color ständig gestellt wird. Diese Frage dokumentiert die Verweigerung, anzuerkennen, dass die Schweiz nicht nur weiss ist, und es auch nie war. Die Frage zeigt das Bedürfnis an, gegen jegliche Evidenz an der Vorstellung einer weissen Nation festhalten zu wollen. Eine Vorstellung, welche aus einer kolonialen Folie entstanden ist.
Der Begriff «Integration» ist in der Schweizer Migrationspolitik zentral. Es wird darüber diskutiert, wer sich gut integriert und wer nicht. Hängt diese Diskussion mit dem von Ihnen angesprochenen Nationalverständnis zusammen?
Ja, unbedingt. Das vorherrschende liberale Bild besagt ja, dass allen Menschen im Grunde dieselben Möglichkeiten zukommen. Diejenigen, die von aussen kommen, können sich anpassen und integrieren, und damit zum Bestandteil der Bevölkerung werden. Das stimmt aber insofern nicht, als es das Selbstbild der Schweiz nicht zulässt. Es haben nicht alle die gleichen Chancen, dazuzugehören, denn die Zugehörigkeit zur Schweiz wird strukturiert durch rassistische und koloniale Elemente. Die weisse Mehrheitsbevölkerung muss anerkennen, dass ein solches Selbstverständnis ständig andere ausgrenzt und abwertet. Mehr als Integration brauchen wir Dekolonialisierung, zum Beispiel der Idee einer weissen Schweiz.
Aber wir hatten ja keine Kolonien.
Das ist der typische Abwehrreflex. Mit dieser Aussage macht man es sich sehr einfach. Denn tatsächlich sind wir weit davon entfernt, als Gesellschaft dekolonialisiert zu sein. Das zeigen auch die rassistischen Gegenstände und Rituale, an denen gewisse Menschen eisern festhalten, in der Kulinarik, an der Fasnacht, in Kinderbüchern oder bei den Witzen, die erzählt werden. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Demokratie, benötigen wir eine breit angelegte Dekolonialisierung. Wir reden von der Schweiz als demokratischem Land, aber ein Grossteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zum Stimm- und Wahlrecht. Und viele derjenigen, die den Zugang haben, werden ständig als Andere, Fremde, nicht-wirklich-Zugehörige behandelt. Das kann mörderische Folgen haben, wie das Racial Profiling zeigt. Es gilt, diese rassistische Hierarchisierung, die in unser Demokratieverständnis eingebaut ist, zu transformieren.
Sie sprechen es an. Racial Profiling war einer der Gründe für die Proteste und die verstärkte Black-Lives-Matter-Bewegung. Inwiefern hat Racial Profiling etwas mit dem Kolonialismus zu tun?
Es ist sogar ein zentrales Beispiel, denn bei der Polizei geht es um die Herstellung von Sicherheit. Bei Racial Profiling zeigt sich in aller Deutlichkeit, wer als schützenswert gilt und wer als Gefahr. Insbesondere Schwarze Männer werden oft nicht als Teil der Bevölkerung gesehen, der von der Polizei geschützt werden soll, sondern als Teil derjenigen bedrohlichen Kräfte, vor der die Bevölkerung beschützt werden muss. Wir müssen uns bewusst sein, welche Auswirkungen das auf das Leben dieser Menschen hat.
Die Bewegung in der Schweiz hat eine nationale Debatte über Rassismus ausgelöst. Wie muss es nun weitergehen?
Wichtig scheint es mir, jetzt dranzubleiben. Gerade diejenigen von uns, die Rassismus nicht am eigenen Leib erfahren und es sich leisten können, die Thematik wieder zu «vergessen», sobald die Schlagzeilen nicht mehr täglich daran erinnern, sind gefordert. Es geht darum, dass sich weisse Menschen nicht einmal mehr in die koloniale Amnesie flüchten, sondern hinschauen, zuhören, verstehen und aktiv mithelfen, dass Rassismus ein Ende nimmt, überall – sei es im Schulzimmer, am Stammtisch, auf offener Strasse oder im Bundeshaus. Ich bin überzeugt davon, dass wir alle nur gewinnen können von einem solchen Prozess, auch wenn es für weisse Menschen bedeutet, Vorrechte aufzugeben. Aber was sind das für Vorrechte, die auf der Entmenschlichung anderer Menschen beruhen?
Da hat sich nicht viel geändert. Auch heute noch importieren wir gerne und viel aus Ländern, wo Güter unter unmenschlichen Bedingungen produziert werden. Man nennt diese Leute heute zwar nicht mehr Sklaven, aber sie sind wirtschaftlich zur Arbeit gezwungen, schlafen beim Arbeitsort statt bei der Familie und werden in den Fabriken geschlagen wenn sie nicht zügig und gut arbeiten.
Aber daran denkt keiner, wenn er sich ein neues iPhone kauft.
Nicht die Vergangenheit ist das Problem, sondern die Gegenwart.
Ansonsten bin ich mit vielem einverstanden, wobei man konsequenterweise auch Kirchen und Moscheen schleifen müsste, wenn man Symbole von Herrschaft und Unterdrückung entfernen möchte.