Im Raum Zürich sorgt derzeit eine bezahlte Anzeige auf Instagram für Stirnrunzeln. «Wo ist Picotodo?», heisst es auf einem Beitrag, auf dem eine scheinbar gewöhnliche Stadttaube vor einer weissen Wand zu sehen ist. Das Tier sei am 26. September in Dietikon verschwunden, heisst es weiter. «Bitte helft mir», schreibt die Verfasserin, «ich bin zerstört». Ein Fund werde mit 2000 Franken belohnt.
Verfasst wurde der Beitrag von Elena Alonso. Die gebürtige Spanierin sucht seit über einem Monat nach dem Tier, von welchem sie sagt: «Er hat mein Leben verändert.» So kam es zur ungewohnten Freundschaft zwischen Frau und Vogel.
Die Geschichte von Elena Alonso und Picotodo, wie sie das Tier genannt hat, beginnt im Mai 2022. Alonso ist unterwegs in Zürich Oerlikon, als ihr ein Rabe am Boden auffällt, der sich in ihren Augen auffällig verhält. Alonso geht hin und sieht, dass vor ihr eine kleine Taube liegt. Sie ist verletzt – Alonso hebt sie auf und bringt sie in eine Zürcher Tierarztklinik. Dort, so meint sie, solle das Tier behandelt werden.
So kommt es aber nicht. In der Klinik erklärt man Alonso, man werde das Tier einschläfern. Diese widerspricht und schlägt vor, die Taube zu sich nach Hause zu nehmen und sich um sie zu kümmern. Da es sich aber nicht um ihr Haustier handelt, lehnt man in der Klinik den Vorschlag ab. Alonso greift deshalb zu einer Notlüge. «Ich habe der Assistentin gesagt, dass ich mich gerne noch von der Taube verabschieden will», berichtet sie. Als sie erneut vor dem Tier steht, packt sie es und ergreift die Flucht. «Ich rannte mit ihm aus der Klinik wie eine Kriminelle», sagt Alonso. Bis zu sich nach Hause.
Dort entscheidet sich die gebürtige Spanierin schliesslich, das Tier selbst aufzupäppeln. Sie füttert die Taube, richtet ihr einen Platz zum Schlafen ein. Und passt ihre eigenen Gewohnheiten an. «Ich habe aufgehört zu rauchen, weil ich dachte, dass das ihm schaden könnte», sagt sie.
Nach etwa zwei Monaten geht es Picotodo schliesslich wieder gut. So bringt ihn Alonso nach draussen, wo sie ihn freilassen will. Aber so weit kommt es nicht. «Er flog los, drehte eine Runde und landete auf meiner Schulter», sagt Alonso. «Da habe ich realisiert, dass ich für ihn wohl wie eine Mutter war.» So entscheidet sie sich, die Taube zu behalten.
Mit dem Entscheid, Picotodo zu behalten, kommt auf Alonso die nächste Herausforderung zu: Sie will Picotodo untersuchen lassen, ob er wirklich gesund ist. In der Schweiz traut sie sich aber seit ihrer Flucht aus der Klinik nicht mehr, zum Tierarzt zu gehen. «Vielleicht hat sich ja rumgesprochen, dass es hier eine gibt, die mit einer Taube aus der Klinik geflohen ist», sagt sie.
So entscheidet sie sich dafür, mit ihrer Taube nach Spanien zu reisen, wo sie ihre Familie besuchen will. Dafür muss sie aber einen Umweg in Kauf nehmen: Weil sie noch keine Dokumente für Picotodo hat, kann sie nicht wie gewohnt das Flugzeug nehmen. So nehmen Alonso und Picotodo zunächst den Zug über Frankreich nach Spanien und von dort aus die Fähre nach Gran Canaria. Zwei Tage und zwei Nächste sind sie unterwegs – statt gut vier Stunden, die sie auf dieser Strecke normalerweise im Flugzeug verbringt.
Auf Gran Canaria angelangt, bringt Alonso Picotodo erstmals ans Meer. Am Strand bleibt er ebenfalls auf ihrer Schulter sitzen. Zudem bringt sie ihn zum Tierarzt. Hier wird überprüft, ob Picotodo wirklich wieder gesund ist – die Resultate sind positiv. Zudem erhält er die nötigen Impfungen, die es Alonso erlauben, ihn mit dem Flugzeug wieder nach Hause zu nehmen. Auch hier fällt sie mit ihrem ungewohnten Haustier auf. «Sogar der Pilot wollte ein Bild mit ihm», erzählt sie.
Auch nach der Rückkehr in die Schweiz bleibt Picotodo an der Seite Alonsos. «Er hat mir gezeigt, was Liebe bedeutet», sagt sie. «Es bedeutet Geduld.» Sie muss wegen Picotodo häufiger ihre Wohnung putzen und verbringt viel Zeit mit ihm. Regelmässig lässt sie ihn auf den Balkon, wo er losfliegt, ein, zwei Stunden unterwegs ist und wieder zurückkommt. Als er mal zwei Tage nicht frisst, entscheidet sie sich, einen Auftritt bei der Casting-Show «Got Talent España» abzusagen, wo sie sich als Sängerin beweisen wollte. «Aber das bereue ich nicht.» Mit der Zeit reagiert die Taube nicht nur auf ihren Namen, sondern auch auf «Sube!» – spanisch für «flieg hier hoch».
Am 26. September dieses Jahres endet das Zusammenleben von Alonso und Picotodo aber jäh. Die Taube ist draussen auf dem Balkon, als Alonso plötzlich sieht, wie sich ein grosser Vogel – «vermutlich ein Raubvogel» – nähert. Kurz darauf fliegt Picotodo davon. Wohl aus Angst, vermutet Alonso. Sie läuft nach draussen und ruft den Namen ihres Vogels, doch dieser kommt nicht zurück. «Er findet den Weg nach Hause nicht mehr», vermutet Alonso – sie ist erst kürzlich von Oerlikon nach Dietikon gezogen. Und seit dem Umzug verzichtet Picotodo normalerweise darauf, grössere Runden zu drehen.
Seit diesem Tag geht Alonso regelmässig auf die Suche nach Picotodo. Sie geht durch die Strassen, ruft seinen Namen in den Himmel und erntet dabei skeptische Blicke von Passantinnen und Passanten. Zudem hat sie begonnen, in Oerlikon bei Wohnungen mit Balkonen zu klingeln, bei welchen sie glaubt, dass sich der Vogel dort aufhalten könnte.
Dabei stösst sie nicht nur auf offene Ohren. «Die ganze Geschichte schien mir so absurd, dass ich sie nicht glauben konnte», sagt ein Anwohner, der Alonso den Zutritt zu seiner Wohnung verweigerte, gegenüber watson. «Eine zahme Taube, die auf meinem Balkon sein soll? Ich dachte, dass es sich um eine Person handelt, die herausfinden will, ob man hier gut einbrechen kann.»
Er ist nicht der Einzige, der Alonso abweist. Sie berichtet: «Wenn ich den Leuten sage, dass ich mein Haustier suche, haben sie Mitleid. Wenn ich dann erkläre, dass es eine Taube ist, sieht es plötzlich anders aus.»
Da die Suche erfolglos verläuft, versucht es Alonso mit der Anzeige auf Instagram. 150 Franken bezahlt sie, damit die Vermisstmeldung auch ausserhalb von ihren Followerinnen und Followern mehr Reichweite im Raum Zürich erhält. Weitere 2000 Franken bietet sie als Finderlohn an. Bislang ohne Erfolg: Seit ihrem Post am Mittwoch hat sich noch niemand bei ihr über die angegebene Nummer gemeldet.
Auch Alonso ist bewusst, wie schwierig es für andere Leute ist, Picotodo von anderen Tauben zu unterscheiden. Und davon gibt es in der Region, in welcher Picotodo sich befinden könnte, zuhauf: Wie die Stadt Zürich schreibt, gibt es nur schon in der Stadt rund 16'000 Tauben. Alonso erwartet deshalb nicht, dass man Picotodo in einem Schwarm Tauben erkennen soll. «Picotodo mag Balkone besonders gut», sagt sie. «Wenn also jemand längere Zeit eine Taube bei sich auf dem Balkon hat, hoffe ich, dass diese Person sich bei mir meldet.»
Aufgegeben hat Alonso die Suche also trotz der schweren Voraussetzungen nicht. «Ich will ihm die Chance geben, mich zu finden», sagt sie. Und so geht sie weiter jeden Tag nach draussen, um ihn zu rufen. Denn nach ihrer langen, gemeinsamen Geschichte ist sie überzeugt: «Wir verdienen es, zusammen zu sein.»
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