Brutaler Angriff in Zürcher Tram – das Protokoll
«Ich empfinde Frust und Machtlosigkeit», so beschreibt Alvaro R.* gegenüber watson seine Gefühle, drei Tage nachdem Patrycja Pakiela in einem Zürcher Tram brutal attackiert wurde. Alvaro R. ist der Freund von Pakiela. Und der Grund, warum der Angriff nicht noch schlimmer ausging. Alvaro R. war es, der den Angreifer überwältigen konnte.
Gegenüber watson erzählt Alvaro R. von der Nacht, die seine Freundin und ihn noch lange beschäftigen wird. Am Ende der Geschichte stehen Verletzungen, Angst und Vertrauensverlust. Eine Chronologie in fünf Akten.
1. Akt: Der Angriff
Es ist Samstagabend, kurz vor Mitternacht, als Patrycja und Alvaro ins Tram Nummer 13 in Richtung Zürich Hauptbahnhof steigen. Ein gemeinsamer Freund begleitet sie, sie setzen sich in ein Viererabteil, plaudern.
Aus dem Nichts schlägt ihr ein Unbekannter mit der Faust ins Gesicht. Während Patrycja das Bewusstsein verliert, stürzen sich Alvaro und der gemeinsame Freund auf den Angreifer. Gemeinsam gelingt es ihnen, ihn zu überwältigen und auf den Boden zu drücken. Er habe einfach funktioniert, sagt Alvaro:
2. Akt: Die Polizei, kein Freund und Helfer
Irgendwie gelingt es Alvaro, mit einer Hand den Angreifer in Schach zu halten. Mit der anderen wählt er die Nummer der Polizei, bittet um Hilfe. Dort heisst es aber: «Keine Kapazität.» Es wird keine Patrouille ausrücken.
Es vergehen lange Minuten, wie viele kann Alvaro nicht mehr genau sagen. Minuten, in denen der Angreifer stetig Widerstand leistet – es kostet die beiden Männer alle Kraft, ihn zu kontrollieren. Dazu beschimpft der Angreifer Patrycja, droht ihr mit dem Tod: «I will kill you, bitch!»
Irgendwann kommt der Tramchauffeur hinzu und reicht Patrycja ein Taschentuch. Sie wischt sich das Blut aus dem Gesicht. Der Tramchauffeur versucht erneut, die Polizei dazu zu bewegen, auszurücken. Erfolglos.
Patrycja, Alvaro, der Freund und der Tramchauffeur – sie sind auf sich allein gestellt:
In ihrer Not entscheiden die Beteiligten, den Angreifer aus dem Tram zu werfen. Mit vereinten Kräften gelingt es Alvaro, dem Freund und dem Tramchauffeur, ihn aus dem Tram zu bugsieren. Der Chauffeur schliesst die Tür, bevor der immer noch Todesdrohungen ausstossende Mann wieder einsteigen kann. Das Tram fährt ab.
3. Akt: Odyssee am HB
Am Hauptbahnhof steigen Patrycja und Alvaro aus. Sie stehen unter Schock. Sie suchen die Permanence-Apotheke. Sie ist geschlossen.
An der Bahnhofstrasse treffen sie auf zwei Polizisten. «Freunde haben uns geraten, unbedingt zuerst zur Polizei und erst dann ins Spital zu gehen», sagt Alvaro.
Die beiden Polizisten schicken Patrycja und Alvaro zum nächsten Polizeiposten. Dort stehen die beiden aber vor verschlossenen Türen. Zum dritten Mal rufen sie die Polizei an. Zum dritten Mal werden sie vertröstet. Sie sollen am nächsten Tag auf dem Posten vorbeikommen.
Mittlerweile ist es kurz vor drei Uhr morgens. Alvaro und Patrycja beschliessen, ins Spital zu gehen.
4. Akt: Im Spital
Im Unispital wird Patrycja gefragt, ob sie den Angriff schon der Polizei gemeldet habe. Alvaro versucht ein letztes Mal, aus dem Spital heraus die Polizei zu rufen. Er blitzt wieder ab. Es handle sich nicht um einen Notfall, sie sollen am nächsten Tag auf dem Posten Anzeige erstatten. Alvaro resigniert:
Das Verdikt: starke Schwellungen, Kopfschmerzen, Kratzer. Alvaro bestellt Patrycja und sich selbst ein Uber. Um sechs Uhr morgens sind sie zu Hause.
5. Akt: Das Vertrauen verloren
Stärker als die körperlichen Verletzungen wiegen die seelischen. Auch mehrere Tage nach dem Angriff steht Patrycja noch unter Schock. Bis jetzt hat sie sich in Zürich immer sicher gefühlt, war auch oft allein unterwegs: «Das mache ich jetzt nicht mehr.»
Das liegt auch daran, dass sie und Alvaro ernüchtert sind. «Ich hätte gedacht, dass in Zürich die Polizei ausrückt, wenn jemand so einen Notfall schildert, unabhängig davon, was sonst in der Stadt los ist», sagt Patrycja.
Und Alvaro doppelt nach: «Ich habe definitiv nicht erwartet, dass man in Zürich von der Polizei zu hören bekommt, sie habe keine Kapazitäten.»
Stadtpolizei bedauert – und nimmt mutmasslichen Angreifer fest
Die Stadtpolizei Zürich hat in einer Medienmitteilung Stellung bezogen. Zu besagtem Zeitpunkt seien sämtliche Patrouillen der Stadtpolizei Zürich im Einsatz gewesen – einerseits musste ein Besetzungsversuch mit massiver Gewaltausübung gegenüber den Einsatzkräften im Raum des Kasernenareals unterbunden werden; andererseits waren die Patrouillen mit dem Knabenschiessen und drei Verkehrsunfällen mit verletzten Personen beschäftigt.
Die Stadtpolizei bedauert, dass man der Frau nicht unmittelbar helfen konnte, heisst es weiter in der Medienmitteilung. Gleichzeitig gibt sie bekannt, den mutmasslichen Angreifer festgenommen zu haben. Es handelt sich um einen 28-jährigen Syrer.
Was bleibt für Patrycja und Alvaro von der Geschichte? Ein Gefühl von Unsicherheit einerseits, ein Vertrauensverlust in die Behörden andererseits, sagt Alvaro.
*Name geändert