Russland geht das Benzin aus: Leere Zapfsäulen könnten zum Sturz von Putin führen
Wladimir Putin gibt den starken Mann, schon seit einem Vierteljahrhundert. Mit nacktem Oberkörper zeigt sich der 72-Jährige zwar nicht mehr. Aber seine staatlichen Medien halten weiter den Mythos vom unfehlbaren Putin hoch. Wenn etwas schiefgeht, ignorieren sie es. Können sie dies nicht, sind seine Unterlinge schuld und Putin in seiner Weisheit muss ihre lästigen Fehler korrigieren.
Doch jetzt häufen sich diese Fehler. Der russische Alltag wird gestört von Krisen rund um Benzin, Nahrungsmittel und vielleicht bald um die Banken. Wie schlecht läuft es und könnte es für Putin gar gefährlich werden? Oder ist es für seinen Machterhalt egal, wie gut es Russland wirtschaftlich geht?
Wirtschaftlich ist es unter Putin nicht immer schlecht gelaufen. Er kommt im Jahr 2000 an die Macht, als in Russland gerade eine finstere Zeit zu Ende geht: Kollaps des Kommunismus, Jahre ohne Wachstum, 1998 eine verheerende Finanzkrise. Schlimmer geht es nicht. Putin hat das Glück, danach über einen Boom präsidieren zu dürfen. Von 1998 bis 2008 sollten sich die durchschnittlichen Einkommen mehr als verdreifachen.
Putin ist populär und in der Lage, seine Macht abzusichern. Einst hat ihn die Elite als vermeintliche Marionette eingesetzt – wegen seiner Wahlerfolge versprechenden Ähnlichkeit mit einer beliebten Filmfigur. Jetzt muss sich diese Elite ihm unterwerfen. Gegner landen im Gefängnis. Werden vergiftet. Fallen aus Fenstern. Putin wird zum mächtigsten Mann Russlands und zum vielleicht reichsten Mann der Welt.
Missgeschicke auf der Propaganda-Bühne
Seither ist Putins wirtschaftlicher Leistungsausweis schwach. Russland kommt noch voran, aber viel langsamer als früher. Von 2008 bis 2019 steigen die durchschnittlichen Einkommen bloss um das 1,5-Fache. Das ist nicht einmal mehr halb so schnell wie im Jahrzehnt zuvor. Und es ist auch langsamer als alle Länder, die die Sowjetunion einst beherrschte und die heute der EU angehören. Alle neun Länder entwickeln sich besser.
Putins Popularität schwindet, wie Umfragen zeigen. Gefährlich wird es für ihn indessen nie. Mit dem ersten Angriff auf die Ukraine und der Annexion der Halbinsel Krim kann er seine Beliebtheit steigern. Deshalb habe Putin diesen Krieg überhaupt begonnen, sagt etwa Menschenrechts-Aktivist Bill Browder. Um an der Macht zu bleiben.
2022 lässt Putin die Ukraine erneut angreifen. Der Westen reagiert mit Sanktionen, von denen der damalige US-Präsident Joe Biden behauptet: Die russische Wirtschaft werde davon «zerdrückt». Nichts dergleichen passiert. Im Gegenteil, Russland erreicht zwei Jahre erstaunlich hohes Wachstum. Putin nutzt dies für seine Propaganda. Sieh her, lieber Westen, so unbezwingbar ist Russland, heb die Sanktionen besser wieder auf. Doch Putin muss für diese Zurschaustellung von Stärke viel Geld in Wirtschaft und Militär pumpen.
Das Geld fliesst via den Staatsapparat. Und es fliesst im Verborgenen via Banken. Auf Geheiss von Putin müssen sie günstige Kredite sprechen für Unternehmen, die in die Kriegswirtschaft eingebunden sind. Die Zentralbank vergrössert diesen Geldfluss ab Frühling 2022 mit tiefen Leitzinsen. Es ist Wachstum auf Pump, Stärke auf Zeit. Doch 2025 häufen sich auf Putins Propaganda-Bühne die peinlichen Missgeschicke.
Inflation drohte ausser Kontrolle zu geraten
Putin hat so viel Geld ausgegeben, hat so viele Russen in den Krieg oder in den Tod geschickt (laut ukrainischer Schätzung über eine Million) – die Arbeitskräfte werden knapp und eine Lohn-Preis-Spirale kommt in Gang. Arbeitnehmer verlangen mehr Lohn von den Arbeitgebern. Diese dann höhere Preise; die Arbeitnehmer wieder mehr Lohn, und so weiter und so fort. Im Frühling 2025 hat Russland eine Inflation von über 10 Prozent.
Besonders schlimm wird es bei den Kartoffeln. Ende Mai kosten sie gut 170 Prozent mehr als im Vorjahr. Und dies in einem Land, das vor Kurzem noch zu den weltgrössten Kartoffel-Essern zählte. Doch in diesem Sommer müssen die Russen auf Brot und Pasta ausweichen, berichtet die von Putin verbotene «Moscow Times». Die Nachrichtenagentur Reuters schreibt von einer «Kartoffelkrise».
Die Zentralbank muss im Herbst 2024 eine jähe Wende vollziehen und ihren Leitzins auf 21 Prozent erhöhen. Bei einem solchen Zinssatz verdoppelt sich die Schuld nach vier Jahren, nach 6 Jahren verdreifacht sie sich. Russische Unternehmer jaulen laut auf.
Ab Sommer 2025 senkt die Zentralbank ihren Leitzins wieder, auf 17 Prozent. Das dürfte vielen Betrieben noch immer eine viel zu schwere Zinslast sein, zumal ihnen ihre Bank einen noch höheren Zinssatz abverlangt. Russische Banker haben deshalb beim Nachrichtendienst Bloomberg über in Verzug geratene Schuldner geklagt und für 2026 gar vor einer Bankenkrise gewarnt.
Schon wird die Putin-Show jedoch von der Ukraine gestört. Das Land hat im August damit begonnen, mit seinen Drohnen systematisch russische Ölraffinerien zu zerstören. Seit Anfang August habe es 16 von 38 getroffen, einige mehrfach. Fast 40 Prozent der Raffineriekapazitäten können derzeit nicht genutzt werden.
Inflation kann korrupte Regime zerstören
Der Krieg gelangt so in den Alltag hinein. Laut Schätzungen verkaufen etwa 2 Prozent der Tankstellen kein Benzin mehr und 20 Prozent der inländischen Nachfrage kann nicht mehr gedeckt werden. Bereits 10 Regionen klagen über Benzin-Mangel, Meldungen über Rationierungen häufen sich. Russland verbietet bis Jahresende den Export von Benzin.
Können diese Krisen für Putin zur Gefahr werden? Es gibt Experten, die das für möglich halten. US-Historiker Harold James beruft sich unter anderem auf die russische Geschichte, wenn er sagt: «Inflation kann korrupte Regime zerstören.» Ein langjähriger Russland-Beobachter erinnert in der «Moscow Times» daran, dass es 2022 in Kasachstan eine vermeintlich kleine Revolte gegen hohe Treibstoffpreise gab. Daraus entstand ein politischer Aufstand, der das damalige Regime zu Fall brachte.
Häufiger sind jedoch Meinungen, wie jene von Browder. Der heutige Aktivist und frühere Russland-Investor hält es für möglich, dass sich Putin an der Macht hält, auch wenn Russland wirtschaftlich abschmiert. Nordkorea mache vor, dass dies möglich sei. Was wahrscheinlicher sei, wenn Putin das Ölgeld ausgehe: Dass er seinen Krieg gegen die Ukraine stoppen muss.
So sieht das auch US-Finanzminister Scott Bessent. «Wir befinden uns in einem Wettlauf», sagte er. «Wie lange kann das ukrainische Militär durchhalten und wie lange kann die russische Wirtschaft durchhalten.» Wenn die russische Wirtschaft voll kollabiere, werde Putin über ein Kriegsende verhandeln müssen.
Derweil freut sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski über die Folgen, welche Russlands Benzinkrise heute schon hat: «Die Brände in den Ölraffinerien sind die wirksamsten Sanktionen», sagt Selenski gemäss der «Washington Post». «Sie schränken die russische Ölindustrie erheblich ein und das schränkt den Krieg erheblich ein». (aargauerzeitung.ch)