Sechs Stunden vor dem Anpfiff befand sich die Schweizer Handball-Nati in etwa 10000 Metern Höhe irgendwo über dem Mittelmeer. Zwei Stunden vor dem Anpfiff erreichte sie zwar das Stadion in Gizeh. Aber ohne Gepäck. Es ist eine Vorbereitung, wie sie sich kein Trainer und kein Spieler der Welt wünscht. Aber kein Lamento. Keiner jammert. Die Schweizer Handballer nehmen die Dinge, wie sie sind. Schliesslich ist WM. Und das ist alles andere als Alltagskram.
Sechs der 16 Spieler, die im Aufgebot stehen, waren noch nicht mal geboren, als die Schweiz 1995 letztmals an einer Weltmeisterschaft teilgenommen hatte. Sechs Stunden sitzen die Spieler am Spieltag im Flugzeug. Zwei Stunden im Bus. Aber keine Spur von müden Beinen. Und wie stehts um die Nervosität? Wahrscheinlich hatten die Spieler ob der Kurzfristigkeit und der Reisestrapazen nicht mal Zeit, nervös zu werden.
«Veni, vidi, vici» (ich kam, sah und siegte), formulierte Trainer Michael Suter am Mittwoch seinen Leitspruch für die WM. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich mit seinem Team noch in Schaffhausen. Aber mit den Gedanken war er bereits in Ägypten. Beim ersten Gegner. Den Österreichern.
Suter coacht famos. Er ersetzt nach gut 20 Minuten Stammtorhüter Nikola Portner durch Aurel Bringolf. Der Keeper von St. Otmar überzeugt. Aber nicht nur er. Lenny Rubin erzielt zwischen der 34. und 40. Minute vier Tore. Der rechte Flügel Cédrie Tynowski macht aus sieben Abschlüssen sechs Tore.
Samuel Röthlisberger und Alan Milosevic verrichten grossartige Defensivarbeit. Und Andy Schmid ist wie eigentlich immer die absolut souveräne und zentrale Figur beim 28:25-Erfolg, der den Schweizern die Türe in die Hauptrunde öffnet.
Am Ende dieses Tages für die Geschichtsbücher sagt Trainer Suter: «Ich bin unglaublich stolz. Und glauben Sie mir, ich benutze diesen Begriff nicht oft. Aber ein solcher Fight nach zehnstündiger Reise, das ist eine ganz grosse Leistung. Es war für viele Spieler und auch für mich das bislang wichtigste Spiel in der Karriere. Ausser ein paar Früchten konnten wir vor dem Spiel nichts essen und dann bringen die Jungs eine solche Leistung. Das ist kaum realisierbar.»
Am Samstag nach dem Lehrgang verabschiedet Trainer Michael Suter seine Spiele mit der Bitte, sich in häusliche Quarantäne zu begeben. Man könne ja nie wissen. Vielleicht rückt die Schweiz für einen WM-Teilnehmer nach.
Corona nimmt, Corona gibt? Das Virus hat den Schweizern die Chance genommen, sich im Frühling in einer Barrage gegen Island für die WM zu qualifizieren. Am Dienstagabend erklären sowohl die USA wie auch Tschechien Forfait für die WM, die einen Tag später in Ägypten eröffnet wird. Gegen 22 Uhr ist klar: Die Schweiz rückt für die USA nach.
Das Problem: In 44 Stunden werden die Schweizer Handballer zum ersten Spiel gegen Österreich in Gizeh, einem Vorort von Kairo, erwartet. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit mit unfassbar vielen Wendungen. Die Spieler müssen aufgeboten, die Corona-Tests organisiert und eine Chartermaschine gebucht werden.
Am Mittwoch um 9.30 Uhr treffen die Spieler in einer Praxis in der Nähe von Schaffhausen ein. Dort werden sie getestet, danach begeben sie sich in der BBC-Arena in Isolation. Einzig die Bundesliga-Legionäre Andy Schmid und Alan Milosevic weilen zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland. Schmid sagt: «Ich muss jetzt packen und waschen. Die Situation ist völlig surreal. Aber ich muss das machen, ich muss diese WM spielen. Diese Chance habe ich wahrscheinlich nur dieses eine Mal in meinem Leben.»
Schnee-Chaos in Zürich, fehlendes Gepäck in Kairo. In der Nacht auf Donnerstag liegen die Resultate des Corona-Tests vor. Ein erster Dämpfer. Die Kadetten-Spieler Jonas Schelker und Luka Maros sind positiv. Dürfen am Donnerstagmorgen nicht mit dem Team Richtung Flughafen fahren, wo die Chartermaschine um 8 Uhr abheben soll.
Jetzt wird's richtig turbulent. Wegen des starken Schneefalls kann das Flugzeug nicht starten. Der Blick geht auf die Uhr. Um 18 Uhr, also in zehn Stunden ist Anpfiff. Um 10 Uhr hebt die Maschine endlich ab.
Aber gleich nach der Landung um 13.30 Uhr werden die Nerven erneut arg strapaziert. Noch auf der Rollbahn wird Fieber gemessen. Und alle müssen sich einem Corona-Schnelltest unterziehen. Die Tests sind negativ und der Bus stünde zur Abfahrt bereit. Aber die ägyptischen Behörden geben erst grünes Licht, nachdem jedem zusätzlich noch ein PCR-Abstrich genommen wurde.
Um 14.30 Uhr fährt der Bus endlich los. Der Plan, erst noch im Hotel einzuchecken, wird verworfen. Die Zeit ist zu knapp. Denn die Fahrt bis zum Stadion dauert etwa eineinhalb Stunden – trotz Polizeieskorte.
Zwei Stunden vor Spielbeginn trifft die Nati in der «Dr Hassan Moustafa Sports Hall» ein. Benannt nach dem Präsidenten des Internationalen Handballverbandes. Nur: Das Gepäck fehlt. Eine hektische Suche beginnt. Um 16.43 Uhr meldet der Pressechef der Schweizer Handballer: «Es sollte jetzt zum zehnten Mal sofort kommen.» Zehn Minuten später, eine gute Stunde vor Matchbeginn, ist es endlich da.
Grossartige Leistung!
Wir sind richtig Stolz auf Euch! Macht weiter so!
Hoffentlich dürfen auch Maros und Schelker noch an die WM!