Nein, in einer veritablen Krise steckt der FC Bayern München nicht. In der Champions League hat sich der Titelverteidiger ohne Niederlage für die K.o.-Phase qualifiziert, im DFB-Pokal steht morgen das Sechzehntelfinal gegen Zweitligist Holstein Kiel auf dem Programm und in der Bundesliga ist der deutsche Rekordmeister nach 15 Spieltagen immer noch Tabellenführer.
Doch der reine Blick auf die Resultate täuscht. Längst spielen die Bayern nicht mehr so souverän wie noch in der überragenden Triple-Saison, als man in 48 Spielen nur einmal verlor. 24 Gegentore hat das Team von Hansi Flick in 15 Bundesliga-Spielen bereits kassiert – so viele wie seit 1977 nicht mehr und doppelt so viele wie der erste Verfolger RB Leipzig auf dem Konto hat.
In der Bundesliga gerieten die Bayern zuletzt achtmal in Folge in Rückstand und konnten eine Niederlage meist nur dank der individuellen Klasse einzelner Spieler verhindern. Gegen Borussia Mönchengladbach setzte es am Freitagabend nun aber die eigentlich längst fällige zweite Saisonniederlage. Das 2:3 nach einer 2:0-Führung zeigte exemplarisch auf, warum der Bundesliga-Krösus derzeit leicht kränkelt.
Die Viererkette der Bayern verteidigt extrem offensiv und meist ohne Absicherung. Das Ziel ist klar: Aus dem hohen Pressing sollen Ballgewinne erfolgen, nach denen der Gegner dank hohem Tempo und Überzahl-Situationen regelrecht überrannt wird. So zerlegten die Bayern im Sommer beispielsweise auch den FC Barcelona beim 8:2 im Champions-League-Viertelfinal in seine Einzelteile.
Doch das hohe Verteidigen birgt auch ein grosses Risiko: Bei Steilpässen in die Tiefe oder langen Bällen auf die Flügel werden die weit aufgerückten David Alaba und Co. oft überrumpelt, was den Gegner zu vielen Torchancen kommen lässt. Das ist nicht neu, ist aber wegen den folgenden vier Punkten zum Problem geworden.
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Viele der 24 Bayern-Gegentore fielen nach demselben Muster: Ein unnötiger Ballverlust in der Vorwärtsbewegung, das schnelle Umschalten des Gegners mit einem Ball in die Tiefe, der dann zum Gegentor führt.
Auch beim 2:3 gegen Gladbach war das so: Das 1:2 für die «Fohlen» fiel nach einem schlampigen Pass von Benjamin Pavard, den 2:2-Ausgleich verschuldete Joshua Kimmich und beim 3:2-Siegtreffer patzte Niklas Süle. Welttorhüter Manuel Neuer, der im Sommer mit seinen Paraden noch so manches Gegentor verhindern konnte, war jedes Mal machtlos.
Die Schwächen der Bayern kennen mittlerweile auch die Gegner und die versuchen ihren Finger tief in Wunde zu drücken. «Es ist bekannt, wie sie spielen», sagte Gladbach-Trainer Marco Rose schon vor dem Duell mit dem Serienmeister. Sie werden wieder hoch stehen, wir werden die Räume bekommen.»
Und so war es dann auch: Gladbach presste hoch und schaltete nach den individuellen Fehlern der Bayern blitzschnell um. «Es hat perfekt funktioniert», freute sich Rose nach dem Sieg. «Sie wollten dominant sein, das haben wir genutzt – und vieles gut und richtig gemacht.»
Der Bayern-Code scheint geknackt zu sein, doch das Gegenmittel funktioniert nur, wenn die Bayern mitspielen und in der Vorwärtsbewegung weiter so schlampig auftreten wie zuletzt. Rose warnte deshalb schon mal die kommenden Gegner des Tabellenfühers: «Ich bin sicher, dass die Bayern die Bayern bleiben – und genau an diesen Punkten arbeiten und stärker zurückkommen.»
Leicht wird es für die Bayern aber nicht, den Hebel umzulegen. Seit Mitte August spielt das Ensemble von Hansi Flick fast ohne Pause durch. Die Müdigkeit drückt in den einzelnen Spielsituationen immer wieder durch und ist wohl auch der Auslöser für die teils fehlende Intensität im Bayern-Spiel.
In der Triple-Saison legten die Bayern oft ein so hohes Tempo vor, dass der Gegner irgendwann nicht mehr mithalten konnte. Problemlos zwang man dem Gegner aber der ersten Spielminute das eigene Spiel auf. Das geht nun nicht mehr so spielerisch, was der Konkurrenz mehr Luft zum Atmen gibt.
Zwar gönnt Trainer Flick seinen Star-Spielern hin und wieder eine Auszeit, aber so richtig abschalten kann man in einer laufenden Saison ohnehin nicht. So wurde Robert Lewandowski beispielsweise nur im Bundesliga-Spiel gegen Köln und in den beiden letzten Champions-League-Gruppenspielen, wo es um nichts mehr ging, geschont. Ansonsten spielte der Bayern-Knipser fast immer über die volle Distanz.
Grund für die Forcierung der Stammspieler könnte sein, dass Flick seiner zweiten Garde zu wenig vertraut. Gegen Gladbach wechselte Flick nur einmal aus und auch sonst schöpft er oft nicht das volle Wechselkontingent aus. In der letzten Saison hatte Flick mit Thiago, Philippe Coutinho und Ivan Perisic zumindest im Mittelfeld valable Alternativen, doch die Last-Minute-Transfers in diesem Sommer genügen den Anforderungen allesamt nicht wirklich, weshalb Flick sie oft auf der Bank schmoren lässt.
Bundesliga-Einsatzminuten der zweiten Garde (1350 Minuten möglich):
Vor einem Jahr hatte Flick im Winter öffentlich Verstärkungen gefordert, diesmal macht er das trotz mangelnder Alternativen nicht. Sportvorstand Hasan Salihamidzic schloss weitere Zugänge in dieser Saison ohnehin aus: «Selbstverständlich machen wir nichts», sagte er zuletzt, als er auf das Transferfenster angesprochen wurde. «Wir sind sehr gut besetzt, haben viele Optionen.» Flick ist da offenbar anderer Ansicht – anders können die fehlenden Einsatzminuten der zweiten Garde kaum erklärt werden.
Dazu noch die sehr bescheidene Bank. Sarr, Costa + Choupo haben kein Bayern-Niveau. Roca, Zirkzee und insb. Musiala (der wirklich Klasse ist) bräuchten viel mehr Einsatzzeit.
Alles in allem kann man froh sein, noch auf der 1 zu stehen.