Eine Besonderheit in Sotschi ist ein so noch nie umgesetztes Konzept des «Olympiaparks»: Sämtliche Eissportanlagen (Eishockey, Curling, Eisschnelllaufen) plus Hotels und das olympische Dorf sind zum ersten Mal in einer einzigen Anlage zusammengefasst worden: Alles ist zu Fuss erreichbar. Die uralte, noch nie erfüllte Forderung nach Olympischen Winterspielen der kurzen Wege ist zumindest im Bereich des Eissportes erstmals verwirklicht.
So wirkt Sotschi 2014 auf den Besucher wie eine Mischung aus Las Vegas und einem Eis-Disneyland. Bereits der Anflug zeigt die Zweckmässigkeit dieser Konzeption. Bei einbrechender Dämmerung wirkt der Landeanflug ein wenig wie die Ankunft auf einem anderen Planeten. Von oben wirkt die Anlage wie eine Raumstation auf dem Mars. Abgeschottet von der Umwelt. Was ja wohl auch im Interesse der Sicherheit ist.
Ein wenig Chaos und Baustellen-Charme. Eine Prise Las Vegas und Disneyland. In der Nacht sind die vielen Gebäude bunt beleuchtet wie die Hotels in Las Vegas. Am Horizont wunderschöne Schneeberge in der Abendsonne. Nach einem ersten Augenschein wird bald einmal klar: So schlimm wird es wohl nicht werden. Der Besucher fühlt sich, wenn er denn nicht gleich helvetische Standards bei allem verlangt, gar nicht unwohl.
Die Abfertigung auf dem nigelnagelneuen Flughafen Adler, nur zwölf Kilometer vom Olympiapark entfernt, ist ein bisschen chaotisch. Aber freundlich. Es braucht, wie alles in Russland, bloss ein wenig Geduld. Die Gastfreundschaft ist hier eben grösser als die Flexibilität und die Perfektion. Der stressige europäische «Sofortismus» ist hier unbekannt.
Vom Flughafen aus laufen direkte Bahn- und Busverbindungen zu allen olympischen Stätten und zu den Hotels. Und, wie bei Olympischen Spielen üblich, gibt es keine Staus für die Gäste. Nur für das einheimische Proletariat. Weil auf den wichtigen Strassen eine Spur ausschliesslich für olympisches Rollmaterial reserviert ist.
Natürlich ist jetzt noch nicht alles fertig. Rund um die Hotels im Olympiapark riecht es nach frischem Beton. Handwerker laufen herum und immer noch funktioniert einiges nicht. Wer will, kann ein paar Storys darüber schreiben, was noch nicht bereit ist und noch ein bisschen über Politik und die Kosten (50 Milliarden Franken oder mehr?) polemisieren.
Solche Geschichten gehen sowieso vor allen Olympischen Spielen um die Welt. Sie gehören zu grossen Sportereignissen wie die Ouverture zur Oper. Die Chronistinnen und Chronisten sind schon da, aber die Vorschauen sind geschrieben. Es gibt noch keine sportlichen Heldentaten und Dramen zu erzählen, doch es muss berichtet werden. Spätestens ab Samstag, wenn die Spiele eröffnet sind, werden die kleinen Mängel, die es eben gibt, wenn sozusagen auf freiem Feld eine ganze Wintersportstation aufgebaut wird, kein Thema mehr sein.
Vom Flughafen direkt ins Hotel, ins Medienzentrum, in eine der Sportanlagen oder ins olympische Dorf: Wer will, kann hier drei Wochen verbringen ohne je die «Raumstation Olympia» zu verlassen. Und wird nach seiner Heimkehr über das wahre Russland so viel zu erzählen haben wie ein Amerika-Tourist, der nur im Disneyland war.
Aber was ist mit der Sicherheit? Nie mehr seit Salt Lake City 2002 – diese Spiele standen noch ganz im Schatten des September-Attentates von 2001 in New York – war die olympische Sicherheit ein solch zentrales Thema. Der Chronist vermutet nach allem, was er aus den Medien erfahren hat, die bewaffneten Gotteskrieger an jeder Strassenecke oder doch wenigstens fast in Schussweite in den Bergen.
Es heisst, Russlands Präsident Wladimir Putin habe seine Elitetruppen, seine «Bluthunde» mobilisiert, um die Sicherheit zu gewährleisten. Tatsächlich ist die Präsenz des Militärs optisch grösser als bei allen Spielen der Neuzeit. Es sind etwas mürrisch dreinblickende Soldaten. So wie in Kinofilmen. Aber sie wirken freundlich, ein wenig gelangweilt und nicht bedrohlich. Keine «Bluthunde des Kremls».
Die Sicherheitskontrollen entsprechen den heute üblichen Standards bei Grossanlässen und sind nicht so umständlich wie etwa 2002 in Salt Lake City. Doch der Chronist spürt: Sotschi 2014 wird anders sein als alle bisherigen Winterspiele. Er würde sich nicht wundern, wenn bald einmal über den fehlenden «olympischen Geist» geklagt würde.
Diese Spiele werden nicht von der Begeisterung eines ganzen sportverrückten Volkes getragen und es wird auch keine spontane Sportparty gefeiert, die eine ganze Stadt erfasst wie zuletzt 2010 im kanadischen Vancouver. Eher werden es russische Retortenspiele. Oder gar kalte, beinahe seelenlose, aber funktionelle Fernseh-Spiele. Spiele der Zukunft: Nicht fürs Fussvolk vor Ort. Sondern TV-gerecht wollen die Sponsoren und Werber und TV-Barone, die achtstellige Summen überweisen, die Spiele haben.