Die beiden europäischen Viertelfinalisten sind unter komplett verschiedenen Voraussetzungen ins Turnier gestartet. Derweil die Franzosen vom ersten Tag an primär die Pflege ihres ramponierten Images im Sinn hatten, zählt für Deutschlands Trainer Joachim Löw in Brasilien nur das deutsche Comeback an der Spitze des WM-Rankings.
Fast ausnahmslos überzeugt haben bis anhin aber eher die Franzosen. «Les Bleus» sind im Prozess ihrer sportlichen «Resozialisierung» schon erstaunlich weit fortgeschritten. Die grenzenlose Selbstzerfleischung vor vier Jahren ist inzwischen in den Hintergrund gerückt. Didier Deschamps ordnete im überdurchschnittlich bestückten Team auf und neben dem Rasen die Rückkehr zur Vernunft an – bis jetzt funktioniert die Strategie des Captains der früheren Weltmeister-Auswahl.
28:3 Treffer in neun mehrheitlich exzellenten Spielen seit dem 3:0 in der Barrage gegen die Ukraine sind gute Argumente für eine positive Fortsetzung. Vollmundige Prognosen waren gleichwohl keine zu vernehmen. Zu gross ist der Respekt vor der deutschen Qualität.
Löws erstklassige Bilanz als Bundestrainer genügt der verwöhnten Öffentlichkeit nicht. Während zwei Qualifikationsperioden hat seine ungeschlagene Equipe mit einem Torverhältnis von 62:15 brilliert. Doch von einer Euphorie ist trotz der 17. Viertelfinal-Qualifikation bei 18 WM-Teilnahmen wenig zu spüren. Inzwischen wird selbst nach Siegen wie in den Achtelfinals gegen Algerien (2:1) die Stilfrage in den Vordergrund gerückt. Der Selektionär lässt sich vom gewaltigen Druck nichts anmerken: «Ich weiss, dass unsere Mannschaft stark ist. Wir haben keine Angst.» Er wünsche sich, dass «das Sieger-Gen» wieder zum Vorschein komme.
Ohne Brillanz und mit Glück hat sich Brasilien an der Heim-WM für die Viertelfinals qualifiziert. Nun stellt sich der «Seleção» mit Kolumbien der nächste südamerikanische Herausforderer in den Weg. Der Gastgeber hatte im Achtelfinal gegen Chile leiden müssen – und wie.
Der chilenische Lattenschuss in der 120. Minute, der kollektive Aufschrei der Fans im Stadion, die Paraden von Julio Cesar, die verschossenen Elfmeter, die Gebete und Tränen der Spieler. Der Gastgeber und grosse WM-Favorit taumelte gewaltig, fiel aber nicht. Die Kritik im Land des Rekordweltmeisters ist noch lauter geworden.
Viele fürchten, dass diese Leistung nicht für die «Hexacampeão», den sechsten WM-Titel, reichen wird. In allen vier Spielen dieser WM vermochte der Gastgeber nicht restlos zu überzeugen, der Auftritt gegen Chile nahm phasenweise sogar chaotische Züge an. Die immer wieder geforderte und auch angekündigte Steigerung blieb aus.
«Es ist normal, dass die Leute fordern, dass wir besser spielen», sagte Trainer Luiz Felipe Scolari. «Aber es gibt keine Unterschiede mehr zwischen Mannschaften mit Tradition, die WM-Titel gewonnen haben, und den anderen Teams.»
«Felipão», der Weltmeistertrainer von 2002, ist besonders gefordert, zumal er heute im Mittelfeld den gesperrten Luiz Gustavo ersetzen muss. Mit Kolumbien trifft die «Seleção» in Fortaleza auf einen Gegner, der alle seine vier Spiele souverän gewonnen und wenig zu verlieren hat. Erstmals in der WM-Geschichte überhaupt steht Kolumbien in einem Viertelfinal. «Wir sind dabei, Geschichte zu schreiben», sagt Rodriguez, der mit fünf Treffern die Torschützenliste anführt. (syl/si)