Der WM-Achtelfinal zwischen Phil Taylor und Kim Huybrechts ist schon lange vorbei, aber im Alexandra Palace grölen noch immer 2500 Darts-Fans das Loblied auf den Roger Federer der kleinen Pfeile. Taylor, der besungene Held der Massen, 16-facher Weltmeister aus der Arbeiterstadt Stoke-on-Trent, sitzt zu diesem Zeitpunkt in den Katakomben und scherzt mit Reportern.
Von Starallüren keine Spur, obwohl «The Power» längst Multimillionär ist. Taylor hat zwanzig Minuten vorher gegen den belgischen Aussenseiter Huybrechts den Kopf gerade noch aus der Schlinge ziehen und 4:3 gewinnen können. Nun gibt er einem Journalisten ungefragt seine Handynummer, als der ihm ein Restaurant mit besonders leckerem Curry empfiehlt. Dass alle Umstehenden seine Nummer ebenfalls mehr oder weniger unauffällig notieren, kümmert Taylor nicht.
Es ist ein Moment, der sinnbildlich für die Sportart ist. Wie das Schwingen in der Schweiz wird Darts zwar ernsthaft und von einigen Athleten professionell betrieben. Aber auch wenn die WM in London vom Verband PDC, von einem grossen Wettanbieter und vom Pay-TV grandios inszeniert wird, sie bleibt im Kern ein höchst bodenständiger Anlass. Es ist das Erfolgsgeheimnis der Sportart.
Darts ist nicht nur ein Hochpräzisions-Sport, in dem es um Millimeter geht. Die WM im «Ally Pally» ist zuallererst eine einzige, riesige Party. Die Fans verkleiden sich, singen und klatschen beinahe pausenlos. Und sie feiern: sich selber, den Sport und jeden einzelnen Athleten.
Im Alexandra Palace wird ein Anlass zelebriert, der ein Mix aus Oktoberfest und Fasnacht ist, bei dem nebenbei Pfeile auf eine Scheibe geworfen werden. Der Besuch erinnert an ein Sechstagerennen: Auch dort stehen für die grosse Mehrheit die Geselligkeit und der Zapfhahn im Vordergrund; der Sport dient als Alibi fürs Feiern.
Aber obwohl eine beträchtliche Menge Malz, Hopfen und Wasser vernichtet wird, bleibt die Stimmung ausgelassen und friedlich. Mal wird der eine Sportler besungen, dann wieder sein Gegner.
Schmähgesänge gibt es zwar auch beim Darts – aber sie sind nicht gegen die Spieler gerichtet, sondern bloss gegen andere Fans. Diejenigen auf den billigen Plätzen rufen den in der Mitte sitzenden Zuschauern «boring, boring tables!» («langweilige Tische!») zu, wenn es ausnahmsweise mal ruhig ist. Diese kontern: «Wir bezahlen euch die Sozialhilfe!» Britischer Humor. Und ob nah oder weit entfernt: Man sieht sowieso nur dank grosser Screens, was passiert.
Man merkt der Veranstaltung an, dass die Organisatoren um ein gutes Image bemüht sind. Waren früher auf den «180»-Kartonschildern öfters Penisse zu sehen, werden Zeichnungen und Sprüche von unter der Gürtellinie heute nicht mehr gerne gesehen. Entdeckt einer der vielen Security-Mitarbeiter – Kleiderschränke in Anzügen – ein solches Schild, wird es konfisziert und umgehend vernichtet.
Selbst der Versuch, ein Schild mit dem harmlosen, an den watson-Slogan angelehnten «Darts Unfucked» ins TV-Bild zu schmuggeln, scheitert. Ein Kameramann deutet erst auf das Schild in meiner Hand, danach auf sein Ohr und macht dann mit dem Daumen die «Hals-Ab»-Geste: Die Regie habe ihm eingeflüstert, die Szene nur auszustrahlen, wenn das Schild mit dem bösen Wort nicht hingehalten werde. Also weg damit.
Unvorstellbar bei einem Fussball-Länderspiel: Selbst wenn ein Engländer gegen einen Holländer spielt, bejubeln die Einheimischen den Ausländer, als wäre er einer der ihren. Holland stellt neben England und Schottland die dominierenden Spieler. Einer der Oranje ist Raymond van Barneveld. Der fünffache Weltmeister erlebt in dieser Saison gerade seinen zweiten Frühling.
«Ich will gar keine olympische Medaille gewinnen», sagt «Barney» im Gespräch mit watson. Darts olympisch? Wieso auch nicht, Bogen-, Pistolen- und Tontaubenschiessen sind es schliesslich auch. Aber van Barneveld winkt ab: «Ich kann mir wirklich nichts Besseres als das hier vorstellen. So eine Atmosphäre gibt es sonst nirgends!»
Van Barneveld steht zu seinem Sport und wer ihn verschwitzt und auch Minuten nach dem Kampf noch schwer atmend erlebt, der merkt spätestens da: Darts kann wirklich ein Sport sein und viel mehr als ein Zeitvertreib im Pub.
Die Bestätigung dafür erhält «Barney» unter anderem von holländischen Fussballnationalspielern. Arjen Robben ist sein Freund, Goalie Tim Krul auch. Man schickt sich SMS, beglückwünscht sich – und die Fussballer bitten den Darts-Star um Tipps fürs Spiel mit den 18 bis 26 Gramm schweren Pfeilen. Robben nenne ihn eine Legende, verrät van Barneveld und tippt sich mit dem Zeigefinger an den Kopf: Das sei doch verrückt.
Die Faszination liegt darin, dass es um Millimeter geht und die Athleten maximal konzentriert ans Werk gehen müssen – aber dass gleichzeitig eine Halle voller angeheiterter Fans einen Mordslärm veranstaltet. Kein Vergleich zu einem Tennismatch, das in klinisch steriler Atmosphäre ausgetragen wird und bei dem die Spieler sich beim Service schon an lautem Einatmen stören.
Nur wer mit dem Krach fertig wird, sich davon nicht irritieren, sondern pushen lässt, der kann erfolgreich sein. Denn im Training ist jeder ein Weltmeister. «Man muss es auf der Bühne umsetzen können», sagt van Barneveld, «und man muss immer an sich glauben.»
«Barney» ist 47-jährig, Phil Taylor gar noch sieben Jahre älter. Dennoch zeigen die Oldies dem aufstrebenden Nachwuchs nach wie vor den Meister. «Die Jungen fürchten keinen Gegner», sagt Taylor. «Aber die Erfahrung bringt dich in den Final. Sie macht in engen Spielen den Unterschied aus.» Auch mit der Stimmung in der Halle komme er besser klar als die meisten seiner Konkurrenten, mutmasst «The Power».
Er ist im Viertelfinal am Freitagabend gegen den Holländer Vincent van der Voort der Favorit. Gewinnt Taylor, winkt im Halbfinal ein Duell der Legenden gegen Raymond van Barneveld. Damit es zu dieser Traum-Affiche kommt, muss dieser den aufstrebenden Engländer Stephen Bunting ausschalten. Bereits heute Abend treffen Titelverteidiger Michael van Gerwen auf Robert Thornton und Peter Wright auf Gary Anderson.
Der Alexandra Palace liegt auf einem Hügel nördlich der Londoner Innenstadt. Die Aussicht dorthin an einem klaren, sonnigen Dezembertag ist alleine schon die Anreise wert. Und wenn man so da steht, zwei Tage Darts hinter sich hat und auf die Welt hinunterblickt, da denkt man plötzlich: Die Erde ist vielleicht doch eine Scheibe.
(Diese Reportage erschien am 1.1.2015.)