In Castellammare di Stabia, direkt neben Pompeji, am Fusse des Vesuv kommt am 31. Januar 1983 Fabio Quagliarella zur Welt. Seine Karriere beginnt so, wie es sich in den kühnsten Kinderträumen abspielen muss – er wird als 5-Jähriger beim Fussballspielen im eigenen Garten entdeckt und schliesst sich der SS Ammunziatella an.
Mit 8 Jahren spielt er dort bereits gegen die 11-Jährigen und darf beim Finalspiel um die regionale Meisterschaft ran. Sein Team liegt im Derby gegen Pro Juventude zur Halbzeit mit 0:3 hinten, als sich der Trainer entscheidet, den kleinen Fabio einzuwechseln. Dieser erzielt einen Hattrick und führt sein Team damit zum 5:3-Sieg. Pro Juventude ist so beeindruckt, dass es Quagliarella sofort verpflichtet. Mit 10 Jahren zieht dieser dann weiter ins benachbarte Gragnano – bekannt als Ort, der die beste Pasta der Welt herstellt.
Quagliarella, der bereits als «Pelè Bianco», als «weisser Pelè», bezeichnet wird, vermag weiter zu überzeugen. Pro Saison erzielt er über 50 Tore und erhält die Auszeichnung als bester Jugendspieler der Region Kampanien. Die Jugendteams reissen sich um den Jungen. Parma, Juventus, Vicenza, alle wollen sie ihn. Fabio geht beim FC Turin ins Probetraining, eine Woche später wird er mit 14 Jahren verpflichtet und spielt ab sofort im Piemont.
1999 unterschreibt Quagliarella schliesslich seinen ersten Profi-Vertrag in Turin, ein Jahr später gibt er mit 17 Jahren sein Debüt in der Serie A. Es folgt ein erster Schicksalsschlag. 2001 verunfallt sein ehemaliger Teamkollege und enger Freund Niccolò Galli auf dem Heimweg vom Training mit seinem Motorrad tödlich. Zu seinen Ehren trägt Quagliarella noch heute das Trikot mit der Nummer 27.
Quagliarella kann sich bei Torino nicht auf Anhieb durchsetzen, pendelt in den unteren Ligen von Klub zu Klub.
Sein erstes Tor in der Serie A erzielt er am 21. Dezember 2005 für Ascoli Calcio, damals ist er bereits 22 Jahre alt. Bei Sampdoria und Udinese gelingt ihm schliesslich der Durchbruch. Quagliarella trifft nicht nur oft, sondern auch spektakulär. Er wird zum «Uomo dei gol impossibili» – zum Mann der unmöglichen Tore.
Dann geht sein grosser Traum in Erfüllung: Quagliarella erhält 2009 einen 5-Jahres-Vertrag beim SSC Neapel, welchen er seit seiner Kindheit verehrt.
Für Neapel schiesst Quagliarella in 37 Spielen 11 Tore, wird von den Fans geliebt – bis sein Wechsel im Sommer darauf verkündet wird. Der Stürmer wechselt ausgerechnet zum verhassten Rekordmeister Juventus Turin in den Norden. Das Kind der Stadt verlässt Neapel bereits wieder und zieht damit den Hass der ganzen Region auf sich. Die Fans besingen Quagliarella als Haufen Müll, Arschloch, als einer, der sich verkauft habe. Die Hintergründe kennt damals noch niemand.
Erst Jahre später wird bekannt: Fabio Quagliarella geht in Neapel durch die Hölle. Er wird von einem Stalker belästigt, der weder ihn, noch seine Familie oder Freunde verschont. Erst 11 Jahre später in einem Interview mit dem «Bleacher Report» erklärt Quagliarella, was er damals erlebte.
Begonnen hat es bereits 2006 während seiner Zeit in Udinese. Quagliarella hat das Gefühl, dass sein Computer gehackt wird. Ausserdem erhält er anonyme E-Mails und wird mit Textnachrichten belästigt. Darin wird ihm vorgeworfen, dass er drogenabhängig sei und mit Mitgliedern der neapolitanischen Mafia «Camorra» befreundet sei.
Quagliarella wendet sich an seinen engen Freund Giulio De Riso, der einen Handyshop betreibt. De Riso weiss genau, wer da weiterhelfen kann und verweist ihn an Raffaele Piccolo, den Schwager eines Bekannten. Dieser arbeitet bei einer Sonderkommission der neapolitanischen Polizei, die auf Cyberkriminalität spezialisiert ist.
Piccolo schaut sich Quagliarellas Geräte an, die anonymen Nachrichten werden danach tatsächlich seltener. Quagliarella ist so dankbar, dass er Piccolo unterschriebene Souvenirs und Matchtickets schenkt. Die beiden freunden sich an.
Als Quagliarella 2009 in Neapel angekommen ist, beginnen die anonymen Mails und SMS wieder. Jetzt allerdings in höherer Kadenz und Intensität. Quagliarella wendet sich erneut an Piccolo, dieser erklärt, dass es sich um Viren handle, Quagliarella soll ihm sein Handy geben, er werde es reinigen und auf dem Polizeiposten eine Anzeige aufnehmen. Als Quagliarella anschliessend die Nummer wechselt, ist er für kurze Zeit von den Stalking-Angriffen geschützt.
Doch der Stalker gibt nicht auf, er beginnt nun, ein bis zweimal pro Woche Briefe zu schreiben – auch an die Eltern von Quagliarella. In einigen Briefen waren Nacktfotos von minderjährigen Mädchen, mit denen Quagliarella geschlafen haben soll. «Das war nicht nur für mich das Schlimmste überhaupt. Auch meine Mutter hatte mit diesen Vorwürfen unglaublich zu kämpfen», erklärte Quagliarella das Leiden der ganzen Familie. Viele der Briefe habe seine Familie von ihm versteckt gehalten, um ihn nicht zu belasten. In Wahrheit hätten sie eine Box mit Hunderten solcher Briefe zu Hause. «Ich habe zu dieser Zeit viel geweint», sagt Quagliarella später rückblickend.
Vor allem die Pädophilie-Vorwürfe machten ihm sehr zu schaffen. «Ich konnte einfach nicht verstehen, wer mir und meiner Familie so etwas antut.» Die Briefe und die Vorwürfe nehmen kein Ende. Quagliarella manipuliere Spiele, nehme an wilden Sex-Orgien teil, heisst es darin.
Der Stalker wird immer hemmungsloser, er schickt Fabios Vater Vittorio ein Foto mit einem Sarg und dem Konterfei dessen Sohnes: «Vittorios Sohn wird sterben», steht darauf. Auch auf das Handy des Vaters werden Drohungen geschickt: «Ich weiss, dass dein Sohn diese Nacht in Neapel unterwegs ist. Wir werden ihm in die Beine schiessen. Wir werden ihn totprügeln» heisst es in einer der Nachrichten.
Piccolo ist sich unterdessen sicher, dass es sich beim Stalker um einen Bekannten der Familie handeln muss, wegen den laufenden Ermittlungen soll Quagliarella deshalb auf keinen Fall mit jemandem über das Stalking sprechen. Dieser ist mittlerweile so mitgenommen, dass er seine Leistung nicht mehr abrufen kann.
Quagliarella ist verzweifelt und entscheidet sich für einen Wechsel zu Juventus, welches ihn erst ausleiht und später fest verpflichtet. Es deutet viel darauf hin, dass der Stalker einen Brief, welchen Quagliarella der Pädophilie und der Zusammenarbeit mit der Camorra bezichtigt, auch an Napoli-Präsident Aurelio De Laurentiis geschickt hat. Die SSC Napoli sagte auf die Briefe angesprochen bloss: «Wir werden keine Informationen dazu geben.» Man war im Süden Italiens auf jeden Fall plötzlich bereit, seine Identifikationsfigur abzugeben. Auch ein Telefonat von De Laurentiis an Quagliarella, in dem er ihm empfiehlt, in die Nähe des Stadions zu zügeln, weil es dort «ruhiger» sei, deutet darauf hin, dass der Napoli-Präsident von den Briefen wusste.
In Neapel wird Quagliarella sofort vom Idol zum Verräter. Die Süditaliener sind sich sicher, dass Quagliarella des Geldes wegen in den Norden wechselt. Sie beschimpfen ihn in den sozialen Medien aufs Übelste. Auch seine Familie, die weiter in Castellammare lebt, muss wieder leiden, unter anderem wird seine Mutter auf offener Strasse als Hure bezeichnet. Weil die Ermittlungen von Piccolo weiterliefen, konnte Quagliarella die Öffentlichkeit nicht über die wahren Gründe für seinen Wechsel informieren.
Auf dem Fussballplatz läuft es Quagliarella in Turin zu Beginn gut. In 17 Partien macht er 9 Tore, dann reisst er sich im Januar 2011 gegen Parma das Kreuzband.
Und was noch schlimmer ist: Auch nach dem Wechsel stoppt der Stalker nicht. Piccolo, der nun seit einem Jahr am Fall arbeitet, verspricht Quagliarella, dass er den Täter bald fassen werde und erwähnt, dass er mittlerweile ebenfalls anonyme Nachrichten erhalte. So nahe dran sei er schon. Als Fabios Vater Vittorio die besagten Nachrichten sehen will, schwört Piccolo, sie gelöscht zu haben.
Vittorio wird langsam misstrauisch, weil er sich fragt, weshalb ein Polizist offensichtliches Beweismaterial löschen sollte. Vittorio äussert gegenüber Sohn Fabio erstmals den Verdacht, dass es sich bei Piccolo um den ominösen Stalker handeln könnte.
Im Sommer 2010 erhärtet sich der Verdacht, dass Piccolo etwas mit den Briefen und Drohungen zu tun hat. Quagliarella trifft sich in den Ferien mit Giovanni Barile, einem befreundeten Rechtsanwalt aus seiner Heimatstadt Castellmare di Stabia. Auch dieser wurde vor einigen Jahren mit ähnlichen anonymen Briefen und Drohungen belästigt. Der Zusammenhang? Raffaele Piccolo. Barile kannte ihn aus seiner Schulzeit, dieser sei ein schüchterner Junge ohne Freunde gewesen, später kreuzten sich die Wege von Barile und Piccolo wieder, weil Barile in der Kanzlei von Piccolos Frau arbeitete.
Barile konnte damals eine von Piccolos Lügen entlarven und fand heraus, dass der Polizist selbst hinter den Briefen steckte und drohte ihm: «Ab morgen hast du meinen Namen vergessen. Selbst wenn ich einen Brief bekomme, der nicht von dir geschrieben wurde, werde ich dich dafür verantwortlich machen.» Piccolo sei nervös geworden und habe bloss auf den Boden gestarrt. Seither habe Barile keinen einzigen Brief mehr erhalten. Weil die eindeutigen Beweise fehlen, klagt Barile Piccolo jedoch nicht an.
Als ihm Quagliarella jedoch seine Geschichte erzählt, wird Barile klar: Da steckt Piccolo dahinter. Die Polizei in Neapel wird involviert, sie sehen, dass Piccolo keine Berichte zum «Fall Quagliarella» verfasst habe. Der Polizei wird schnell klar, dass Piccolo alle persönlichen Kontaktdaten von den «gereinigten» Computern und Telefonen von Quagliarella hatte.
Nun steht Piccolo immer stärker unter Verdacht, die Polizei überprüft sein Facebook-Konto und bemerkt, dass er nach den Kommas nie einen Leerschlag macht – die gleiche orthografische Ungenauigkeit ist den Ermittlern auch in den Briefen und Droh-SMS aufgefallen.
Noch fehlen die handfesten Beweise gegen Piccolo. Die Ermittler wollen ihn nun mit Hilfe von Vittorio Quagliarella überführen. Bei einem inszenierten Treffen versteckt Vittorio ein Diktiergerät in seiner Unterhose und nimmt die Lügen und Intrigen von Piccolo heimlich auf. Doch die Indizien sind zu wenig für einen Durchsuchungsbefehl. Erst als die Polizisten bei einer erneuten anonymen SMS Piccolo anrufen und so dessen Handy orten, finden sie heraus, dass sich sein Mobiltelefon direkt neben der Telefonzelle befand, von der die anonyme SMS verschickt wurde.
Endlich hat die Polizei nach langen drei Monaten den benötigten Durchsuchunsbefehl und findet bei Piccolo zuhause mehrere belastende Computer. Piccolo hatte im Laufe der Jahre nicht nur Quagliarella, sondern etliche weitere Menschen gestalkt: «Mich hat er ausgenutzt, um an Tickets und Trikots zu kommen, hat vor seinen Freunden damit geprahlt, wie einfach es für ihn sei, weil er einen Fussballstar kenne», erklärte Quagliarella.
Es geht unfassbare sieben Jahre, in denen Quagliarella schweigen muss, bis im Februar 2017 das Verfahren gegen Piccolo endlich abgeschlossen ist. Am schlimmsten sei für ihn gewesen, dass er während der laufenden Ermittlungen habe schweigen müssen, während alle über ihn urteilten, erklärte Quagliarella. In Neapel war er während dieser Zeit noch immer eine «Persona non grata» – auch seine Familie musste sich über die Jahre in der Heimat immer wieder beleidigen lassen.
Fabio Quagliarella, au bord des larmes, a expliqué aujourd'hui au micro de Sky Sport la raison de son départ de Naples en 2010. pic.twitter.com/vkkli6JTvA
— SSC Napoli France (@NapoliCFrance) 19. Februar 2017
Das Gericht spricht schliesslich eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten gegen Piccolo aus. Ihm falle eine riesige Last von den Schultern, erklärte Quagliarella, wenn ein Polizist vier Jahre und acht Monate erhalte, habe das schon etwas zu bedeuten. Zehn Jahre nachdem Quagliarella seinen ersten anonymen Brief erhalten hat, muss sein Peiniger endlich ins Gefängnis.
Der Haken an der Sache? Piccolo sitzt gar nicht im Gefängnis. Noch schlimmer, er arbeitet sogar weiterhin als Polizist und wurde lediglich nach Cava de Tirreni, einen Küstenort in Kampanien, versetzt. Das haben zumindest die Recherchen von «Bleacher Report» ergeben. Piccolo beharre weiterhin auf seiner Unschuld und schwört, er habe den Menschen nur helfen wollen.
In Italien können Urteile zweimal angefochten werden, nach der Schuldsprechung im Februar 2017 legte Piccolo Berufung ein – das definitive Urteil steht noch aus. Bis dahin gilt Piccolo als unschuldig und darf weiterhin seinem Job nachgehen. Es besteht gar die Möglichkeit, dass Piccolo wegen der Verjährungsfrist gar nie ins Gefängnis muss, selbst wenn er als schuldig verurteilt wird. «Ich bin wütend, was sonst muss jemand tun, um ins Gefängnis zu kommen?», sagte Quagliarella zu den Entwicklungen im Fall Piccolo.
Dennoch scheint Fabio Quagliarella auf dem Feld endlich wieder befreit aufspielen zu können. Mittlerweile 36 Jahre alt, hat er soeben die beste Saison seines Lebens gespielt und in 37 Spielen 26 Tore für Sampdoria Genua erzielt und damit die Torjägerkrone der Serie A geholt. Er hat unter anderem 5 Tore mehr erzielt als ein gewisser Cristiano Ronaldo.
Im März kam er gar das erste Mal seit 2010 wieder zu Einsatzminuten für die «Squadra Azzurra» und traf, wenn auch nur gegen Liechtenstein, doppelt. Mit 36 Jahren und 54 Tagen wurde er dadurch zum ältesten Torschützen der italienischen Fussball-Nationalmannschaft.
Der grossartige Fussballer kann endlich frei von den grössten Sorgen sein Potential entfalten. Und mittlerweile haben ihm selbst die Napoli-Fans seinen Abgang verziehen. Kurz nach Bekanntwerden der Hintergründe haben sie im Stadion ein Banner präsentiert: «Du hast die Hölle mit enormer Würde durchlebt. Wir werden dich wieder in die Arme schliessen, Fabio, Sohn dieser Stadt.»
Message from Napoli fans to Quagliarella during Napoli-Sampdoria in 2017 after he revealed that he had to leave Napoli to get away from his stalker:
— Everything Napoli (@NapoliAndNaples) 2. Februar 2019
"You’ve lived through hell with enormous dignity. We will embrace you again, Fabio, son of this city". #NapoliSampdoria pic.twitter.com/cDYLCiB0AE
Bin vollster Bewunderung für Fabio Quagliarella und seine Familie, dass sie nicht gänzlich an dieser unglaublich verabscheuungswürdigen Geschichte zerbrochen sind: mein tiefster Respekt!❤️ 🙌🏻🙌🏻🙌🏻