Im Campo Bahia wurde mal wieder debattiert. Die Turbulenzen in der eigenen Zone gegen die unberechenbaren und wilden Algerier (2:1 n.V.) verlagerten sich ins DFB-Quartier. Der erweiterte Coaching-Stab soll zusammen mit dem Chef erörtert haben, ob es sinnvoll sei, den früheren Aussenverteidiger Philipp Lahm angesichts der Defizite hinten rechts nach wie vor im zentralen Mittelfeld zu forcieren. Als «kontrovers» klassifizierte Goalie-Trainer Andy Köpke die interne Diskussion.
Ausgerechnet am Tag vor dem Duell mit Frankreich erschien dann in der Wochenzeitung «Die Zeit» ein Interview mit Löw. Der Nationalcoach betonte, dass er Lahms Rückzug lediglich vorsehe, «falls wir auf der rechten Seite ein akutes Problem im Spiel bekommen sollten» - der Münchner rücke nur im «Notfall» zurück.
«Ich habe meine Entscheidungen getroffen, auch was die Rolle von Philipp Lahm betrifft. Und dazu stehe ich bis zum Schluss.» Die Lahm-Frage sei endgültig geklärt, übermittelten die deutschen Reporter. Vielleicht aber auch nicht. Das Gespräch sei vor den Achtelfinals geführt worden, präzisierte der DFB.
Kritiker werfen Löw nicht zum ersten Mal taktische Selbstverwirklichung vor. Er gefährde mit seiner Haltung das ganze Projekt. Michael Ballack, bis kurz vor der WM 2010 Captain und dann regelrecht entmachtet, empfahl Löw in seiner Kolumne im «Express» eine sofortige Umstellung: «Lahm müsste links spielen, Boateng rechts, Mertesacker und Hummels innen. Dann hätten wir auch eine Defensive von WM-Format.»
Die Positionsfrage spaltet und lähmt die deutsche Fussball-Nation. Sogar am Regierungssitz beschäftigten sie sich mit der Aufstellung. Bundesinnenminister Thomas de Maizière reihte sich ebenfalls unter die 80 Millionen Experten: «Ich würde Lahm rechts hinten spielen lassen.» Vieles dreht sich im Kreis.
Von aussen betrachtet erstaunt die in erster Linie selber erzeugte Hektik. Der zuweilen giftige Tonfall der extrem anspruchsvollen Beobachter stösst bei den Protagonisten auf wenig Verständnis. Für Löw, der seit seinem Amtsantritt 2006 an vier grossen Turnieren dreimal die Runde der letzten vier und den EM-Final (2008) erreicht hat, ist die Kritik nur schwer nachvollziehbar: «Da wird einiges eilig publiziert, mir fehlt es manchmal am richtigen Mass.»
Nicht nur Löw missfällt der permanente Kurs der medialen Konfrontation. Per Mertesacker holte im ZDF-Verhör zum Gegenschlag aus: «Wollen Sie eine erfolgreiche WM? Oder sollen wir wieder ausscheiden und haben schön gespielt? Ich verstehe die ganze Fragerei nicht!» Ein paar satirische Randfiguren machten sich danach über den «Wut-Per» lustig, Thomas Müller hingegen stärkte ihm sofort den Rücken: «Das war die Wahrheit. Per hat es auf den Punkt gebracht.»
Und Müller doppelte nach. Sie hätten Fehler gemacht, sich aber während 120 Minuten zerrissen. Er verspüre ohnehin wenig Lust, sich nach einem Sieg noch entschuldigen zu müssen. Für die «Bild» war es eine «Brandrede», gemässigtere Kreise deklarierten die Äusserungen des Topskorers als Aufruf zur Solidarität.
4:0 gegen Portugal, 2:2 gegen Ghana, 1:0 gegen die USA, 2:1 gegen Algerien, den prickelnden WM-Klassiker gegen die Franzosen vor der breiten Brust. Der Kurs stimmt und doch muss sich Löws Equipe mindestens einmal pro Tag auf irgendeinem Kanal rechtfertigen. Im Land der unzähligen Welt- und Europameister ist Erfolg eben relativ, die Dauerkontroverse hält an - und 1990 ist weit weg. (si)