Ein einziger Tag kann die Wahrheit einer ganzen Saison offenbaren und aufzeigen, warum Tom Lüthi im Moto2-Titelkampf bisher stets gescheitert ist. Und warum Dominique Aegerter noch nie um den Titel fahren konnte.
Es war vorletzte Woche. Jerez de la Frontera in Andalusien. Hier testen die Asphaltcowboys vor dem Saisonstart zum letzten Mal. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Drei Tage lang Vollgas. Am Schluss ist Tom Lüthi (3.) bei den Besten. Aber er stürzt am Mittwoch so schwer, dass er am Donnerstag frühzeitig Feierabend macht. Dominique Aegerter stürzt nicht. Aber es reicht nicht für eine Spitzenklassierung (9.).
So ist es fast immer seit Einführung der Moto2-WM im Frühjahr 2010. Tom Lüthi ist schnell. Er fährt oft aufs Podest (19 Podestplätze und 2 Siege in 4 Jahren). Aber er stürzt auch oft und war in der Moto2-Klasse noch nie besser als WM-4. Dominique Aegerter fährt hingegen selten aufs Podest (2 Podestplätze in vier Jahren). Aber er stürzt fast nie und hat inzwischen 33 Rennen in Serie in den Punkterängen beendet. Wenn er hier in Doha erneut in die Punkte fährt, stellt er den Regelmässigkeits-Weltrekord von Luca Cadalora (34mal in Serie in den WM-Punkten) ein. Seit Einführung der Moto2-WM ist Dominique Aegerter in Trainings und Rennen 13-mal gestürzt. Tom Lüthi hat es 25-mal erwischt.
Tom Lüthi könnte mit Dominique Aegerters Konstanz die Moto2-WM gewinnen. Und Aegerter wäre mit Lüthis Speed und Spitzenresultaten auch Weltmeister. Eine Kombination aus den beiden, ein «Tom Luegerter», ergäbe den neuen Valentino Rossi.
Tom Lüthi war bei den Vorsaisontests ganz vorne. So wie 2010, 2011, 2012. Nur letzte Saison nicht – da musste er wegen einer Sturzverletzung pausieren. Aber noch nie hat der Emmentaler eine Moto2-Saison durchgestanden. Bisher fehlte nach gutem Beginn die Konstanz zum Titelgewinn. 2012 war er sogar kurz WM-Leader, ehe ihn drei «Nuller» in der zweiten Saisonhälfte um alle Titelchancen brachten. Er hat die richtige Mischung zwischen Risiko und Berechnung nie ganz gefunden. Wird sich das diese Saison ändern?
Vieles spricht dafür. Daniel M. Epp, seit zwölf Jahren Lüthis Freund und Manager, geht davon aus. «Tom war noch nie so entschlossen, selbstsicher und zielorientiert. Er musste sich letzte Saison nach einer schweren Verletzung wieder nach oben kämpfen und das hat ihn stärker gemacht.» Zudem sei die technische Basis jetzt so gut wie noch nie. «Wir haben im letzten Herbst gleich nach dem letzten Rennen die neue Maschine bekommen und konnten im November die technische Basis legen. Bei den Vorsaisontests haben wir nun die Feinabstimmung gemacht.»
Tom Lüthi bestätigt den Eindruck seines Managers. «Die letzte Saison hat mich stärker gemacht, das fühle ich. Im November sind bei einer letzten Operation die Schrauben und Platten aus meinem Ellenbogen entfernt worden. Anfang Februar war ich bei den ersten Tests in Valencia sofort schnell und so ist es seither geblieben. Nicht ein einziges Mal musste ich rundenlang fahren bis ich mich gut fühlte. Ein so gutes Gefühl wie jetzt hatte ich vor einer Saison eigentlich noch nie.» Der letzte Schritt zur Konstanz und zum Moto2-WM-Titel scheint für den 125er-Weltmeister von 2005 möglich.
Für Dominique Aegerter ist jetzt vieles anders. Die Erwartungen sind höher. Aus einer Oberaargau Lokalgrösse ist ein Sportler mit nationaler Popularität geworden: Ein Töff-Rockstar mit eher noch mehr Charisma als Tom Lüthi. Es ist die Mischung aus sympathischer Bescheidenheit und gesundem Selbstvertrauen. Ein Selbstvertrauen, welches vermuten lässt, dass er es faustdick hinter den Ohren hat.
Dominique Aegerter hat sich in der letzten Moto2-WM als 5. in der Endabrechung erstmals vor Tom Lüthi (6.) klassiert und ist damit die Nummer 1 in der Töff-Schweiz. Gewiss, Lüthi verlor gut ein Drittel der Saison durch die Verletzungen, die er sich unverschuldet bei einem Teststurz zugezogen hatte. Doch das interessiert nicht mehr. Die letzte Wahrheit ist die Resultatliste.
Warum ist Dominique Aegerter der letzte, so schwierige Schritt ganz nach oben auf das Siegerpodest nach wie vor nicht gelungen? Er überlegt lange bevor er Antwort gibt: «Eine gute Frage. Es sind wohl mehrere Faktoren. Tom hat mehr Erfahrung, einen besseren Fahrstil und vielleicht halt auch mehr Talent.» Er sagt, Tom Lüthi fahre ruhiger und fliessender. Aber er glaubt nicht, dass Tom Lüthi mehr riskiert. «Ich fahre ja auch am Limit.» Der letzte Schritt zum ersten GP-Sieg und vielleicht sogar zum ersten WM-Titel scheint für Dominique Aegerter möglich.
Tom Lüthi wirkt vor dem Saisonstart ruhig und entschlossen. Dominique Aegerter hat den «Lüthi-Komplex» weitgehend verloren und strahlt eine neue, erfrischende Selbstsicherheit aus. Die Saison 2014 kann uns die beste Töff- Saisons aller Zeiten (seit 1949) bescheren: Die erste mit zwei Schweizern, die sich in der zweitwichtigsten WM nicht nur um Podestplätze und Titel duellieren. Und es geht auch darum, wer die Nummer 1 im Lande ist. Diese interne Konkurrenz könnte noch mehr Energie freisetzen. Aber eben: Zum Titel reicht es nur, wenn Tom Lüthi konstanter und Dominique Aegerter noch ein paar Stundenkilometer schneller wird.