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«Für jeden Roman Wick gibt es 20 Raffaele Sannitz, die gerne in die Nationalmannschaft kommen»

Der Kanadier Glen Hanlon steht vor seiner ersten Eishockey-WM als Headcoach der Schweizer Nationalmannschaft.
Der Kanadier Glen Hanlon steht vor seiner ersten Eishockey-WM als Headcoach der Schweizer Nationalmannschaft.Bild: KEYSTONE

«Für jeden Roman Wick gibt es 20 Raffaele Sannitz, die gerne in die Nationalmannschaft kommen»

Seit knapp einem Jahr führt Glen Hanlon die Geschicke des Schweizer Nationalteams. Vor seiner WM-Premiere spricht er über Absagen von Stars wie Roman Wick, seine Philosophie und blickt auf das Turnier in Prag voraus.
27.04.2015, 10:1927.04.2015, 13:34
MARCEL KUCHTA / schweiz am sonntag
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Ein Artikel von Schweiz am Sonntag
Schweiz am Sonntag

Glen Hanlon, wie oft haben Sie sich in den vergangenen Monaten genervt? 
Glen Hanlon: Ich nerve mich nicht öfter als andere Leute. Aber ich weiss, worauf Sie abzielen. Verletzungen und Absagen kommen zwar vor, aber 90 Prozent der Spieler, die ich im Verlauf der letzten Monate aufgeboten habe, sind auch gekommen. Das ist eine sehr gute Quote.

Aber hat man wirklich immer für jede Absage Verständnis?
Ich kümmere ich mich weniger um jene Spieler, die nicht kommen. Und sowieso: Die meisten Spieler, die nicht kommen, sind verletzt. Mir ist es viel wichtiger, dass die Spieler, die da sind, vollen Einsatz zeigen und mit ganzem Herzen bei der Sache sind.

Trotzdem: In Weissrussland, wo Sie einige Jahre als Nationaltrainer gearbeitet haben, würde es vorzeitige Rücktritte wie jenen von Roman Wick oder Absagen aus familiären Gründen wie bei Philippe Furrer nicht geben. 
Aber dort hat man eine ganz andere Ausgangslage. Die meisten Nationalspieler sind bei einem Klub, Dinamo Minsk, angestellt. Wenn man dort einen Vertrag unterschreibt, dann gibt man gleichzeitig auch das stille Einverständnis ab, wenn immer möglich in der Nationalmannschaft zu spielen.

Trainer Glen Hanlon im Gespräch mit Romano Lemm. 
Trainer Glen Hanlon im Gespräch mit Romano Lemm. Bild: freshfocus
«Die Nationalmannschaft heutzutage in erster Linie ein Platz für Spieler, die es lieben, Eishockey zu spielen und die Schweiz international zu vertreten»

Das weissrussische Modell müsste Ihnen aber besser passen, oder? 
Man darf hier die Relationen nicht aus den Augen verlieren. In Weissrussland hat man als Nationaltrainer vielleicht 30 Spieler zur Verfügung. Da fällt jeder Verletzte oder anderweitig unabkömmliche Mann sofort ins Gewicht. In der Schweiz könnte ich theoretisch 60 Leute für eine WM aufbieten und habe deshalb umso mehr Spielraum. Sowieso liegt die Stärke der Schweizer Nationalmannschaft darin, dass wir weniger auf einzelne Starspieler angewiesen sind, sondern als Einheit funktionieren.

Waren Sie überrascht, dass es in der Schweiz inzwischen so viele Spieler gibt, die valable Kandidaten für einen Platz in der WM-Mannschaft sind? 
Überrascht ist das falsche Wort. Ich war beeindruckt, als ich mit meinem Vorgänger Sean Simpson die Liste der potenziellen Nationalspieler durchgegangen bin und sah, wie gross der Talentpool ist.

Ist es nicht grundsätzlich so, dass die Attraktivität der Nationalmannschaft ein wenig abgenommen hat? Man hat das Gefühl, dass es früher doch eine Selbstverständlichkeit war, für sein Land zu spielen, heute aber nicht mehr unbedingt.
Ich bin noch nicht einmal ein Jahr im Amt und will mich daher nicht zur Vergangenheit äussern. Aber das Umfeld hat sich sicher total verändert. Als Ralph Krueger vor über 15 Jahren Nationaltrainer wurde, da wurden weniger Meisterschaftsspiele ausgetragen, da gab es keine Champions League und auch keinen Schweizer Cup. Und damals hatte die Schweiz einen Spieler in der NHL – David Aebischer. Heute haben wir 15 Schweizer in Übersee.

Wie wirkt sich das aus? 
Nehmen wir die Weltmeisterschaft als Beispiel. Lange Zeit war dieses Turnier für die Spieler eine gute Plattform, sich zu präsentieren und ihren Wert zu steigern. Heutzutage haben das die besten Spieler nicht mehr nötig. Die Nachfrage ist enorm. Sie verdienen so oder so viel Geld. Deshalb ist die Nationalmannschaft heutzutage in erster Linie ein Platz für Spieler, die es lieben, Eishockey zu spielen und die Schweiz international zu vertreten.

Raffaele Sannitz ist zur Stelle, wenn man ihn braucht.
Raffaele Sannitz ist zur Stelle, wenn man ihn braucht.Bild: freshfocus

Wie meinen Sie das? 
Andres Ambühl ist einer von dieser Sorte. Er kommt immer, wenn man ihn braucht – auch wenn es nur für einen Tag ist. Oder nehmen wir Raffaele Sannitz. Er ist 31, wurde viele Jahre nicht mehr berücksichtig. Jetzt war er während eines Grossteils der WM-Vorbereitung voller Enthusiasmus dabei (er wurde vor einer Woche aus dem Kader gestrichen, Anm. der Red.). Anders ausgedrückt: Für jeden Roman Wick gibt es 20 Raffaele Sannitz, die gerne in die Nationalmannschaft kommen.

Wie ist das eigentlich, wenn man einem Neuling mitteilt, dass er für die Nationalmannschaft spielen darf? 
Ich wünschte, ich könnte die Telefonate aufnehmen, die ich mit diesen Spielern führe. Man würde hören, wie glücklich sie sind. Es kommt sogar vor, dass Spieler im ersten Moment nicht glauben können, dass wirklich ich am anderen Ende der Leitung spreche (lacht).

Hat sich die Zusammenarbeit mit den Klubs so entwickelt, wie Sie sich das erhofft haben? Sie mussten ja sehr viele Wünsche berücksichtigen, damit alles politisch korrekt abläuft.
Das ist eigentlich der schwierigste Teil meines Jobs. Ich muss während einer Saison vier bis fünf verschiedene Mannschaften zusammenstellen und habe fast 60 Spieler aufgeboten. Ich versuche natürlich, alle so gleichmässig wie möglich zu berücksichtigen. Aber das ist mit all den zusätzlichen Wettbewerben nicht einfacher geworden. Ich hoffe, dass die Klubverantwortlichen meine Arbeit zu schätzen wissen (lacht).

Aber Hand aus Herz: Sind 60 Spieler nicht zu viel? 
In einer perfekten Welt würde ich jedes Mal dieselben 27 Spieler aufbieten. Aber ich muss mit den Rahmenbedingungen klarkommen, die mir vorgegeben wurden. Ich habe keine Wahl.

Ist das nicht etwas frustrierend? 
Nein, überhaupt nicht. Ich sehe es als eine meiner Aufgaben an, Spieler an die Nationalmannschaft heranzuführen. Und ich bin überzeugt, dass jeder, der einmal das Dress mit dem Schweizer Kreuz getragen hat, das Nationalteam in seinem Herzen behalten wird. Diese Spieler werden die Nationalmannschaft immer unterstützen – auch gegenüber ihren Teamkollegen im Klub. Man baut etwas, das viel grösser ist als eine WM-Mannschaft. In Kanada ist man für immer involviert in den Aktivitäten des Teams Canada, wenn man einmal mit dem Trikot mit dem Ahornblatt gespielt hat. Es ist eine Ehre. Diese Denkweise möchte ich auch in der Schweiz implementieren.

Fast 60 Spieler wurden bereits von Hanlon aufgeboten. 
Fast 60 Spieler wurden bereits von Hanlon aufgeboten. Bild: KEYSTONE
«Heutzutage haben die besten Spieler die WM als Präsentationsplattform nicht mehr nötig»

Kommen wir zur Gegenwart: Am kommenden Samstag beginnt für die Schweiz die WM. Können Sie schon abschätzen, wo Ihre Mannschaft steht? 
2013 war mit dem Gewinn der Silbermedaille in Stockholm ein Highlight in der Geschichte des Schweizer Eishockeys. Ich versuche nun, den Spielern, die in diesem Team dabei waren, die bestmöglichen Voraussetzungen zu geben. Sie haben einen Job zu verlieren. Jeder muss mir die Entscheidung so schwierig wie möglich machen. Es ist eine tolle Gruppe, wir hatten viel Spass und Erfolg während der Vorbereitungszeit.

Die Auftritte und Resultate der Testspiele waren sehr ermutigend. Waren Sie überrascht von Ihren Spielern? 
Vor den ersten Testspielen gegen Finnland habe ich mir schon meine Gedanken gemacht. Die damals aufgebotenen Spieler hatten nach dem Meisterschaftsende alle zwei Wochen Pause. Wir konnten nur zweimal zusammen trainieren. Ausserdem war klar, dass bis zur WM noch einige personelle Wechsel stattfinden würden. Gegen die Finnen machten wir dann schnell Fortschritte, gegen Russland zeigten wir zwei sehr gute Leistungen, was mich dann aber nicht mehr überrascht hat.

Jetzt auf

Die Vorbereitungszeit ist sehr lange, Sie mussten immer wieder Kaderänderungen durchführen. Macht das den Job schwieriger? 
Nationaltrainer zu sein ist wirklich ein fantastischer Job. Aber die letzten zwei Wochen vor der WM bringen dafür alles Unangenehme, was einem während des Rests des Jahres erspart bleibt. Zum jetzigen Zeitpunkt einem Spieler mitteilen zu müssen, dass er nicht Teil des WM-Kaders ist, bricht einem das Herz. Diese Spieler sind seit Wochen dabei, sie können sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen, nicht mehr zu dieser Mannschaft zu gehören. Ich wache manchmal mitten in der Nacht auf und denke weniger darüber nach, wen ich streichen muss, sondern mehr, wie ich es ihm mitteilen muss. Ich wünschte manchmal, ich wäre weniger sentimental (lacht). Auf der anderen Seite möchte ich diesen Job nicht mehr machen, wenn ich diesen persönlichen Touch verliere.

Die WM beginnt für die Schweiz mit vier Partien gegen sogenannt «leichtere» Gegner. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil? 
Ich sehe das etwas anders: Für mich ist die Vorrunde wie eine Best-of-7-Playoff-Serie. Man muss vier von sieben Spielen gewinnen, um in die nächste Runde einzuziehen. Ich denke, es wäre aus psychologischer Sicht falsch, die Spieler unter Druck zu setzen und zu sagen: «Diese vier Spiele müssen wir gewinnen.» Zumal die Ausgeglichenheit unter den Mannschaften immer ausgeprägter wird. Es gibt keine leichten Gegner mehr. Das Wichtigste ist, dass wir uns wohlfühlen und bereit sind – egal, gegen wen wir spielen.

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