«Es ist schwer zu glauben, dass ich ein Teil dieser Gruppe bin», sagte Shai Gilgeous-Alexander, als er darauf angesprochen wurde, was er gerade erreicht hatte. Der 26-jährige Basketball-Superstar führte die Oklahoma City Thunder in der Nacht auf den heutigen Montag zum ersten NBA-Titel der Team-Geschichte und wurde danach zum wertvollsten Spieler (MVP) der Finalserie gekürt. Gilgeous-Alexander war schon der MVP der Regular Season und erzielte mit im Schnitt 32,7 Punkten pro Spiel die meisten der gesamten Liga.
Damit ist er erst der vierte Basketballer, dem dies gelingt. Womit wir bei der elitären Gruppe wären, von welcher der Point Guard jetzt Teil ist: Bisher erreichten nur Kareem Abdul-Jabbar (1970/71), Shaquille O'Neal (1999/2000) und Michael Jordan (1990/91, 91/92, 95/96, 97/98) alle vier Meilensteine in derselben Saison. Nun eben auch Shai Gilgeous-Alexander.
Werden Basketballer mit Michael Jordan, dem wohl Grössten aller Zeiten, verglichen, beginnt bei vielen Fans schnell einmal die Halsschlagader zu pochen. Jedoch sind solche Vergleiche im Falle von «SGA» nicht unberechtigt. In den Playoffs erzielte er in 21 Partien im Schnitt 30,4 Punkte und bereitete 6,5 Körbe vor. Auch defensiv leistete er einen wertvollen Beitrag. Dabei legte Gilgeous-Alexander eine bemerkenswerte Konstanz an den Tag. Ausserdem kontrolliert er stets das Spiel, geht als Leader voran. Qualitäten, die auch Jordan, der zwischen 1990/91 und 97/98 sechs Meisterschaften gewann, ausmachten.
Der Star der Thunder befindet sich natürlich nicht ganz auf dem Niveau von Jordan zu seinen besten Zeiten, doch bewegt er sich zumindest in dessen Sphären. So schreibt «The Athletic»: «Er ist aus demselben Holz geschnitzt wie Kobe Bryant und Michael Jordan.» Die Datenexperten des Podcasts Thinking Basketball verglichen Gilgeous-Alexander und die Legende der Chicago Bulls während der Regular Season und zeigten auf, in wie vielen Bereichen die beiden ähnliche Statistiken aufweisen. Unter anderem bei der hervorragenden Trefferquote von Würfen, die sehr gut verteidigt werden, oder dem Aufdrehen in Phasen, in denen der beste Mitspieler – bei Gilgeous-Alexander ist dies Jalen Williams – nicht auf dem Feld ist und sich die Verteidigung stärker auf sie konzentrieren kann.
«SGA» habe keine echten Schwachstellen, heisst es dort. So sei egal, welchen Weg der Verteidiger ihm zustelle – Gilgeous-Alexander findt immer seine Orte auf dem Feld, von denen er trifft. Er weise von überall eine unglaubliche Effizienz auf und sei deshalb kaum aufzuhalten. Anders als viele moderne Guards wirft Gilgeous-Alexander eher unterdurchschnittlich häufig von hinter der Dreierlinie – vielmehr bevorzugt er die Mitteldistanz. Auch das eine Gemeinsamkeit mit Michael Jordan, der viele seiner legendärsten Würfe aus dem Bereich zwischen der eingefärbten Zone und der Dreierlinie lossandte.
Vergleicht man Gilgeous-Alexanders Leistungen in der Finalserie gegen die Indiana Pacers mit jenen von Jordan (31,2 Punkte, 11,4 Assists) bei seinem ersten Meistertitel gegen die Los Angeles Lakers, fällt auf, dass «MJ» noch einmal effizienter war (Trefferquote von 55,8 Prozent) und zudem deutlich mehr Assists sammelte. Dennoch: Während der Regular Season und der restlichen Playoffs ähneln sich die Statistiken der beiden stark. Und trotzdem wird Gilgeous-Alexander von vielen Basketball-Fans negativ gesehen.
Obwohl er eigentlich immer ein Underdog war, weder nach der Highschool noch nach dem College als riesiges Talent galt. Im NBA-Draft 2018 wurde er an elfter Stelle von den Charlotte Hornets ausgewählt und sofort zu den Los Angeles Clippers verfrachtet. Diese sandten ihn trotz seines angedeuteten Potenzials nach einer Saison gemeinsam mit einigen Draft-Picks für Superstar Paul George nach Oklahoma City. Dort explodierte der 1,98 m grosse Guard dann plötzlich. Von Jahr zu Jahr wurde er besser, bis er einer der besten Basketballer der Welt war.
Die Entwicklung ist vor allem der harten Arbeit geschuldet, die Gilgeous-Alexander schon als Junge investierte. Weil ihm mit 9 Jahren auffiel, dass er seine rechte Hand häufiger nutzte, spielte er im Training teilweise nur noch mit links, um seine Beidhändigkeit zu fördern. Bereits im Alter von 13 Jahren schob er Extraschichten – täglich um 5 oder 6 Uhr morgens. Den Lohn erntet er nun seit einigen Jahren: In dieser Saison erzielte er zum dritten Mal hintereinander mindestens 30 Punkte pro Spiel.
Doch knapp acht dieser Zähler erzielte Gilgeous-Alexander durch Freiwürfe. Er wird deshalb abschätzig als «Free Throw Merchant» bezeichnet, womit sich die Fans über seine gefühlte Abhängigkeit von Freiwürfen lustig machen. Der Kanadier gilt gar als Betrüger, weil er Fouls suche und häufig solche zugesprochen bekäme, die gar keine Fouls seien. Seine theatralische Art, zu fallen, bekräftigt seine Kritiker in ihrer Meinung.
«Er ist einer der meistgehassten Sportler, an die ich mich erinnern kann», sagt Ben Taylor von Thinking Basketball. Dabei würde Gilgeous-Alexander nicht übermässig viele Freiwürfe bekommen. Mit 8,8 pro Spiel sei er nur 19. von allen MVP-Saisons, heisst es bei The Athletic. In den Playoffs waren es dann 9,4. Bei einem Akteur, der über 20 Mal pro Spiel zum Korb zieht, ist das nicht unbedingt ein Wunder. Jordan warf zu seinen besten Zeiten teilweise über 13 – und das im Schnitt.
Wer nun behauptet, dass die NBA viel weicher geworden ist und Jordan für diese Freiwürfe viel härter arbeiten musste, vergisst, dass die Liga-Verantwortlichen die Schiedsrichter bereits in der letzten Saison anwiesen, mehr laufen zu lassen. Während dieser Playoffs gab es bereits Diskussionen, ob zu wenig gepfiffen werde und das Spiel mittlerweile gar zu physisch sei.
SGA = NBA FINALS MVP
— NBA (@NBA) June 23, 2025
⛈️ 30.3 PPG
⛈️ 4.6 RPG
⛈️ 5.6 APG
⛈️ 1.9 SPG
⛈️ 1.6 BPG@shaiglalex's special 7-game series lifts the Thunder to their first title in the OKC era! pic.twitter.com/kuMT7qxvdY
Ausserdem sei Gilgeous-Alexanders Art, sich Freiwürfe zu erarbeiten, auch eine Qualität, wie NBA-Legende Steve Nash bei The Ringer erklärt. «Er manipuliert die Gegner. Er lockt sie in eine Position und nutzt sie dann aus», so Nash. Der Thunder-Guard wisse genau, wie viel Kontakt es vertrage, um kein Offensiv-Foul zu begehen. Er behalte stets die Balance, selbst wenn es so wirke, als verliere er gerade die Kontrolle. So hat Gilgeous-Alexander seinen ganz eigenen Stil – und Teil davon ist eben diese Fähigkeit, an die Freiwurflinie zu gelangen.
Über die «Free Throw Merchant»-Rufe der Fans sagt er: «Das interessiert mich nicht, ich habe mich noch nie darum gekümmert.» Es sei schlicht ein Versuch der gegnerischen Anhängerschaft, ihn aus der Ruhe zu bringen. «Das ist ihr Job.» Doch gelingen tut dies nicht. Ansonsten befände sich Shai Gilgeous-Alexander nicht in der elitären Gesellschaft von Kareem Abdul-Jabbar, Shaquille O'Neal oder eben Michael Jordan.