Die Hockey-Geschichte hätte auch einen anderen Verlauf nehmen können. Im Sommer 1995 holt Präsident Werner Kohler die beiden Langnauer Reto und Jan von Arx zum HC Davos. Er erinnert sich: «Der ZSC war auch stark interessiert. Entscheidend war letztlich, dass wir den Eltern glaubhaft versichern konnten, dass Reto und Jan bei uns in Davos auch neben dem Eis gut aufgehoben sind.» Also lieber in die gesunden Berge als ins verdorbene Zürich. Ohne diesen Transfer wäre Arno Del Curto nicht, was er heute ist. Und der HCD nicht die erfolgreichste Mannschaft des 21. Jahrhunderts.
In der ersten Saison der «Ära von Arx» heisst der HCD-Trainer noch Mats Waltin. Dann kommt Arno Del Curto. Unter dem Engadiner hat sich der Emmentaler zu einem der charismatischsten Leitwölfe unseres Hockeys entwickelt. Länger als jeder andere Einzelspieler prägt Reto von Arx eine Mannschaft. 1000 Spiele haben schon vier Schweizer vor ihm bestritten. Aber noch nie hat einer 1000 Partien für den gleichen Klub gespielt.
Was macht den Leitwolf Reto von Arx aus? Was seine Dauerhaftigkeit? Es gibt ein Erklärstück aus dem Jahre 2005. Der HC Davos gewinnt nach 2002 im Frühjahr 2005 den zweiten Titel der «Ära Arno Del Curto». Mit den NHL-Stars Joe Thornton, Rick Nash und Niklas Hagmann. Hier die damalige Meisterwürdigung, die so treffend die Rolle des Emmentalers erklärt: «Hat Joe Thornton die Meisterschaft 2005 für den HC Davos entschieden? Nein. So wenig, wie einst Wayne Gretzky die Stanleycup-Finals für die Edmonton Oilers entschieden hat.»
Es liegt aber in der Natur des Sports, dass jeder Erfolg einen Helden, ein Gesicht braucht. Nur so wird er letztlich für ein breites Publikum vermittelbar.
Joe Thornton war zweifelsfrei DER Star beim HCD. Kein Spieler strahlte auch nur annähernd sein Charisma aus. Doch Charisma sollte gerade bei Thornton nicht mit dem Einfluss auf dem Eis verwechselt werden. Die Davoser bereiteten ihm die Bühne für seine Show und er nützte den Freiraum. Das Spektakel sieht jeder. Doch das Handwerk wird übersehen.
Wer behauptet, Joe Thornton habe die Meisterschaft nicht entschieden, muss wenigstens die Antwort liefern, wem denn die entscheidende Rolle im Team des Meisters zukommt.
Der wichtigste Einzelspieler, der Mann, der die Meisterschaft 2005 für den HC Davos entschieden hat, heisst Reto von Arx. Er hat eine ganz ähnliche Rolle gespielt wie Mark Messier einst bei den Edmonton Oilers. Alles drehte sich damals bei den Oilers um Gretzky – doch die Mannschaft holte den Stanley Cup später auch ohne Gretzky, aber mit Messier. Gretzky gewann ohne Messier nie mehr einen Stanley Cup.
Aber Messier führte sein Team in Edmonton und in New York auch ohne Gretzky zum Stanley Cup. Reto von Arx ist – auf Schweizer Verhältnisse übertragen – ein ganz ähnlicher Spielertyp. Sowohl was seine Art, eine Mannschaft zu führen, als auch, was seine Spielweise betrifft.
Reto von Arx hat die Schwerarbeit beim HCD übernommen, damit das Genie Thornton, in seiner Spielweise durchaus mit Gretzky vergleichbar, seine offensiven Highlights produzieren konnte. Reto von Arx organisierte das beste Boxplay der Liga – und das war für den Titelgewinn so wichtig wie das Powerplay. Reto von Arx dominierte, wenn es drauf ankam, auch die Offensive.
Er buchte in der Verlängerung in Zürich den Siegestreffer, nicht Joe Thornton. Vor allem aber überliess Reto von Arx, der Leitwolf des Teams, Joe Thornton den Platz im Rampenlicht und stellte sich ganz in den Dienst der Mannschaft und des NHL-Stars. Weil er wusste, dass das so der Mannschaft am meisten bringt. Nur ganz wenige Spieler sind bereit zurückzustehen, um einem kapriziösen Superstar die Bühne zu überlassen.
Bleibt noch zu erwähnen, dass Joe Thornton in seiner ganzen Karriere nur mit einem Club etwas gewonnen hat: Mit dem HC Davos. Mit Reto von Arx an seiner Seite.
Reto von Arx ist mit Abstand der beste Schweizer NLA-Spieler des vergangenen Jahrzehnts. Dass er nicht in der Nationalmannschaft spielt – das ist wiederum eine andere Geschichte.
Wir wissen jetzt also, welche Rolle Reto von Arx in einer Mannschaft übernimmt. Aber was erklärt die Dauerhaftigkeit seiner Karriere? Ganz einfach: Seine Leidenschaft für das Spiel. Er ist, wie alle Grossen, ein «ewiger Spieler».
Reto von Arx hat eine der aufregendsten Epochen unseres Hockeys geprägt. Er gehört Mitte der Neunzigerjahre zur «Boston Gang». Zu jener legendären Mannschaft, die unter Trainer Arno Del Curto zum ersten Mal auf Augenhöhe mit den Weltbesten spielt und erahnen lässt, welches Potenzial unser Eishockey eigentlich hat.
Aus keinem anderen Junioren-WM Team kommen so viele aussergewöhnliche Spielerpersönlichkeiten: Sandy Jeannin, Ivo Rüthemann, Michel Riesen, Mark Streit, Mathias Seger, Sandro Rizzi, Martin Plüss und Reto von Arx. Der spätere HCD-Leitwolf ist der Topskorer des Teams (7 Punkte in 6 Spielen).
Auf diese oder jene Weise personifizieren diese Spieler den Aufstieg der Schweiz aus den Niederungen der B-WM zur Weltklasse und die Eroberung der NHL. Jeder hat mehrere Meisterschaften gewonnen.
Wer ist der Grösste? Wahrscheinlich doch der Topskorer der «Boston Gang». Ganz sicher aber ist Reto von Arx der eigenwilligste. Geadelt wird er unfreiwillig durch Ralph Krueger.
Als es darum geht, den Unmut des Publikums nach dem kläglichen Scheitern beim Olympia-Turnier von 2002 von sich fernzuhalten, opfert er Reto von Arx als Sündenbock. Er wird zusammen mit Marcel Jenni zu Unrecht ausgerechnet in Salt Lake City, der Hauptstadt der Mormonen, der Trunkenheit bezichtigt und vorzeitig nach Hause geschickt. Ralph Krueger ist aus der Kritik und rettet seinen Job. Seine Karriere wäre vielleicht 2002 zu Ende gegangen, wenn er nicht seine charismatischste Spielerpersönlichkeit dem Volkszorn geopfert hätte.
Reto von Arx ist konsequent. Salt Lake City ist sein letztes Titelturnier. Er beendet seine Nationalmannschafts-Karriere nach 105 Länderspielen (22 Tore/27 Assists) frühzeitig. Er hat noch nie halbe Sachen gemacht. Mit Reto von Arx hätte die Schweiz schon 2004, 2005 und 2009 und nicht erst 2013 um eine WM-Medaille gespielt.
1000 Spiele für einen einzigen Klub. Eine Bestmarke für die Geschichtsbücher. Der Vertrag von Reto von Arx läuft aus. Durchaus möglich, dass es für den «ewigen Spieler» noch einmal eine Verlängerung in Davos gibt.