Nichts symbolisiert die Krise Gottérons besser als der Transfer von Daniel Steiner (36). Er ist einer der letzten wahren
Rock’n’Roller unseres Hockeys. Er liebt die Musik, die er spielt (das Eishockey) – aber es hat ihn noch nie gekümmert, für welche Band (für welches Team) er gerade fidelt. Der ehrlichste Egoist unseres Hockeys mit Gastauftritten in Langnau, Zürich, Rapperswil-Jona, in Amerika, Lugano, Ambrì und Biel.
Ausgerechnet dieser Hockey-Egoist ist der Hoffnungs-Transfer für ein Hockeyunternehmen, das seinen Platz auf unserer Hockeylandkarte seinem kämpferischen Sozialismus (den leidenschaftlichen «Copains») verdankt. Wie kann das sein?
Darüber machen sich viele kluge Leute Gedanken. Ja, Gottérons Krise hat globale Dimensionen: Sie beschäftigt die auserlesensten Kreise des Welteishockeys. IIHF-Präsident René Fasel, der höchste aller Hockeyfunktionäre, wird bei seinen Reisen rund um den Globus immer wieder von Gottérons Leiden eingeholt. «Ja, es stimmt, ich interessiere mich immer noch sehr für Gottéron. Die heutige Technik macht es möglich, dass ich die ‹Liberté› auf der ganzen Welt lesen kann.» («La Liberté» ist Fribourgs Lokalzeitung – die Red.)
René Fasel liest nicht nur. Er hört auch viel. Zum Beispiel von Slawa Bykow. Der Weltstar geniesst seinen Ruhestand in Freiburg, er sitzt bei Gottéron im Verwaltungsrat und sein Bub Andrej ist einer der Schlüsselspieler.
Nun könnte sich der Hockey-Weltpräsident zu Wort melden und ein mittleres politisches Beben auslösen. Denn er ist ein Sohn dieser Stadt, hat für Gottérons zweite Mannschaft gespielt und ist Ehrenmitglied des Klubs. Aber seit einem missglückten Abstecher in die lokale Politik hütet er sich vor einer Einmischung. Er sass einst für kurze Zeit im Kantonsparlament und scheiterte mit seinen Vorstössen krachend. Er mag auf internationalem Parkett einer der besten Hockey-Diplomaten der Geschichte sein, aber auf der kleinen Bühne des Heimattheaters hat er seine Rolle nie gefunden.
Noch 2013 stand Gottéron ganz oben und wurde erst im letzten Moment im Final vom SC Bern gestoppt. Was hat nun eine der grössten Krisen seiner NLA-Geschichte ausgelöst?
Am Anfang jeder Analyse steht der Torhüter. Trainer und Sportchef Hans Kossmann entschied im Frühjahr 2012, auf die Dienste von Cristobal Huet zu verzichten (er wechselte nach Lausanne) und auf Benjamin Conz zu setzen. Wäre der eingebürgerte Franzose und Stanley-Cup-Sieger geblieben, wäre Gottéron nach wie vor ein Spitzenteam und Lausanne in der NLB.
Nach dem Kriege ist jeder Soldat ein kleiner Napoleon. Was heute als Torheit sondergleichen erscheint, war damals ein kluger Schachzug. Cristobal Huet war schon 36. Benjamin Conz 21. Dem besten Torhüter der U20-WM gehörte die Zukunft. Seine NLA-Tauglichkeit hatte er bereits bewiesen. Er hexte die SCL Tigers 2011 in die Play-offs. Es schien, als habe Gottéron endlich, endlich sein Torhüterproblem auf Jahre hinaus gelöst.
Aber Hans Kossmann, heute Trainer in Ambrì, ist als Francis Fukuyama in die Geschichte eingegangen. Der amerikanische Politologe hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Ende der Geschichte verkündet, den ewigen Sieg der westlichen Welt. Einer der grössten Irrtümer aller Zeiten. Hans Kossmann hatte mit der Verpflichtung von Benjamin Conz auch so etwas wie das Ende der Geschichte verkündet – das Ende aller Torhüterprobleme für Gottéron. Es war, wie wir jetzt wissen, der Anfang neuer Torhüterprobleme.
Dass Benjamin Conz der Belastung nicht gewachsen sein würde – das konnte niemand, wirklich niemand, erahnen. Noch in seiner ersten Saison erreichte er mit Gottéron 2013 den verlorenen Final. Nun ist er mit einer Fangquote von 89,58 Prozent statistisch die schwächste Nummer 1 der Liga. Inzwischen hat Trainer Larry Huras in seiner Verzweiflung zwischendurch auch Dennis Saikkonen eingesetzt – doch der ehemalige SCB-Junior ist auch nicht besser (88,00 Prozent).
Es passt durchaus ins Bild, dass nach dem Rücktritt von Gerd Zenhäusern der hochdekorierte Bandengeneral Larry Huras (61) geholt worden ist. Warum nicht im Sport versuchen, was wir aus der Geschichte kennen? Schliesslich haben auch die Franzosen nach dem Untergang der «Grande Nation» im Sommer 1940 den 84-jährigen Philippe Pétain, den Helden von Verdun, als Regierungschef zurückgeholt. Inzwischen spricht vieles dafür, dass Larry Huras, der meisterliche Held von Zürich, Lugano und Bern, in Fribourg ein tragischer Hockey-Held werden könnte wie Marschall Pétain.
Aber kehren wir zurück zum Kerngeschäft Hockey. Gottéron hat genug Talent für einen Platz in der oberen Tabellenhälfte. Aber Gottéron ist zu welsch geworden. Oder besser und weniger «hockeyrassistisch» ausgedrückt: Gottéron wirkt wie eine aus der Zeit gefallene Mannschaft. Mit viel Talent, ja, mit spielerischer Brillanz – aber mit geringem «Kampfwert». Kein Zufall deshalb, dass Gottéron in der Champions Hockey League bis in die Halbfinals gekommen ist. Im paneuropäischen Wettbewerb trifft das Gottéron, das spielen will, auf ausländische Spitzenteams, die auch spielen wollen. Die «Gnadenlosigkeit» des Resultathockeys, die Leidenschaften, die so oft die Partien der heimischen Liga prägen, lodern nicht. Es geht in der
Champions Hockey League bloss um ein bisschen flüchtigen Ruhm.
In der heimischen Liga ist es anders. Zwischen Davos und Genf zählt jeder Check, jeder Schuss, jeder Punkt, jeder Fehler. Gottéron ist so ein klassisches Beispiel für die These «All the tools, but no toolbox». Was übersetzt in etwa heisst: «Es sind alle Werkzeuge vorhanden, aber es fehlt die Werkzeugkiste.» Es fehlen die Konstanz, die klare Linie, das Durchsetzungsvermögen und Härte, Wasserverdrängung und Einschüchterungspotenzial um das Talent in Resultate umzumünzen.
Gottéron hat darüber hinaus, wie verlässlichste Gewährsleute erzählen, ein existenzielles Führungsproblem. Das Problem wird so geschildert: Ein General Manager (Raphael Berger), der den Posten seinem klugen Opportunismus und der Scheu vor jeder Form von Verantwortung verdanke, ein Sportchef (Christian Dubé), der zwar viel von Hockey verstehe, aber in der Hockey-Seele so egoistisch sei wie Daniel Steiner und zu sehr auf Talent und zu wenig auf die Chemie und die Hierarchie im Team achte. Deshalb sei ihm der Irrtum unterlaufen, einen tschechischen Schönwetterspieler (Roman Cervenka) zum Teamleader zu machen. Das sei umso verhängnisvoller, weil ein anderer Leitwolf, Andrej Bykow, Gottérons grösster Schillerfalter sei.
So müsse in der Saison nach dem Rücktritt des letzten Deutschschweizer Leitwolfes (Benjamin Plüss) eigentlich Captain Julien Sprunger das Team führen. Einer der besten, kaltblütigsten Skorer der letzten 20 Jahre. Aber eben ein Skorer auf der Flügelposition. Kein Center, der auf seinen Schultern das Team durch alle drei Zonen zu tragen vermag. Weil die letzten Nebel des längst verblassten Ruhmes der Finalsaison 2013 bei einigen Stars noch immer den Durchblick erschweren, gebe es in der Kabine selbst in dieser ernsten Lage divenhaftes Gebaren.
Und so spielt Gottéron also zu welsch. An einem guten Abend brillant, wie auf den europäischen Tanzbühnen. Aber die Mannschaft ist zu wenig robust für die allabendliche Mühsal in der Meisterschaft. Talentiert genug, um doch noch die Play-offs zu erreichen, aber in der inneren Verfassung so zerbrechlich, dass gar die Play-outs drohen.
Probleme in der Kabine, auf dem Eis und in der Führungsetage: Gottéron, seit 1980 in der NLA, müsste sich wieder einmal erneuern und das ganze Management auswechseln. Aber der Revolutionär, der alles auf den Kopf stellt wie einst der kürzlich verstorbene Jean Martinet, der Gottéron einst mit dem Transfer von Slawa Bykow und Andrej Chomutow vor dem Untergang bewahrte, ist nicht in Sicht. Die Klage geht, ausgerechnet in der Not sei der Präsident so schwach wie seit den späten 1980er Jahren nicht mehr.
Und René Fasel, der Mann, der helfen könnte, ist damit beschäftigt, die Hockeywelt zu managen und hat keine Zeit für Gottéron. Immerhin stammen von ihm die tröstlichen Worte: «So gross die Schwierigkeiten auch sein mögen – wir sollten Gottéron niemals unterschätzen …»