56 Jahre Hockeygeschichte lösen sich nicht einfach auf wie ein Morgennebel über dem Greifensee. «Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht» war die Antwort einer der Generäle Napoleons, als ihn die Briten bei der Schlacht von Waterloo aufforderten, sich zu ergeben. Auf unser Hockey übertragen: «Kloten mag absteigen, aber es ergibt sich nicht.»
Um 20.15 Uhr ist der Puck eingeworfen worden. Erst am nächsten Tag fällt die Entscheidung. Exakt 28 Minuten nach Mitternacht trifft Denis Hollenstein mit dem 67. Abschlussversuch der Klotener zum 3:2. Die Uhren stoppen im 6. Drittel bei 102 Minuten und 31 Sekunden Spielzeit. Das längste Spiel in der Geschichte unseres Hockeys. Denis Hollensteins Treffer ist die filmreife Krönung eines der grossen Dramen unseres Hockeys.
WIR HABEN EINE ENTSCHEIDUNG! @DHollenstein91 schiesst @EHC_Kloten_1934 gegen die @lakers_1945 ins Glück. Kurz vor halb eins ist also Schluss. 🤪#MySportsCH #HomeofSports #NationalLeague #Ligaquali2018 pic.twitter.com/bR3fDwMsan
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Ausgerechnet Captain Denis Hollenstein, der Leitwolf, der bisher in dieser Liga-Qualifikation ein Versager war (0 Tore/-3 Bilanz) rettet seine Ehre. Denn die hatte er durch seine frühzeitige Vertragsunterzeichnung bei den ZSC Lions schon beinahe verloren. Der Vorwurf, er sei mit Kopf und Herz schon im Hallenstadion und nicht mehr im Schluefweg, hat ihn im Stolz getroffen.
«Wer schliesslich das Tor erzielt hat, ist nicht so wichtig» wird André Rötheli hinterher sagen. «Aber es freut mich, dass es Denis war.» Klotens Trainer sagt, er habe nie an seinem Captain gezweifelt. Denis Hollenstein habe immer alles gegeben. Die Leidenschaft fürs Eishockey sei bei jedem Spieler gross, unabhängig von der Vertragssituation. «Die geht nicht einfach weg, weil man bei einem anderen Klub unterschrieben hat. Wechsel gehören zum Eishockey.»
Es ist schon spät. Aber @DHollenstein91 kommt noch husch husch zum Interview. #MySportsCH #HomeofSports #NationalLeague #Ligaquali2018 pic.twitter.com/alckDQLzGK
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Nun, die Leidenschaft ist zurück. Aber die Frage, die alle umtreibt: Warum erst jetzt? Hätten die Klotener schon in den Playouts gegen Ambri mit der gleichen Leidenschaft gekämpft und gelitten, dann hätten sie sich vorzeitig gerettet. Und warum die so miserable Leistung im ersten Spiel dieser Liga-Qualifikation, die nun Kloten an den Rand des ersten Abstieges der Geschichte gebracht hat?
André Rötheli sagt, es sei nach den langen Monaten der Enttäuschungen und Niederlagen einfach nie gelungen, das «Momentum» zu finden. Er habe gehofft, dass es einmal in einem Spiel gelingt, vier, fünf Treffer reinzuhauen und die Blockade zu lösen. «Aber das war nie der Fall.»
Hat der Sieg in diesem grossen, gewaltigen Ringen die befreiende Wirkung? André Rötheli ist zu lange in diesem Geschäft, um nun euphorisch werden. «Es ist ein gewonnenes Spiel. Mehr noch nicht. Wenn wir am Donnerstag verlieren, sind wir wieder gleich weit.» Dieses gewonnene Spiel sei noch nicht die Wende. «Dieser Sieg bedeutet, dass wir in dieser Liga-Qualifikation angekommen sind.»
Der Oltner hat jenseits von Mitternacht, einen starken Auftritt. Er strahlt die Ruhe und Gelassenheit aus, die Kloten in der schwierigsten Lage der Klubgeschichte hilft. Er sagt, dieses Spiel hätte auch anders ausgehen können. «Aber ich habe mir gesagt: wenn es eine Gerechtigkeit im Sport gibt, dann gewinnen wir nach allem, was wir diese Saison durchgemacht haben, dieses Spiel …»
Er sagt, nun gelte es, erst einmal herunterzufahren. Schlaf, Erholung und gute Ernährung seien wichtig. Keiner habe ein solches Marathonspiel schon mal erlebt. Nun beginnt sozusagen eine Expedition in ein unbekanntes, in unserem Hockey noch nie geschautes Land. Wer die «Maschine Mensch» nach mehr als vier Stunden Hockey bis am Donnerstagabend am besten wieder zum Laufen bringt, wird das vierte Spiel gewinnen. Niemand klagt über die Belastung. Nur ganz nebenbei: was wäre das für ein Jammern und ein Geschrei, wenn Fussballstars einer solchen Belastungsprobe unterzogen würden!
Es ist nach dem Spiel still im Kabinengang. Keine laute Rockmusik ist zu hören (die oft in Kabinen nach einem Sieg gespielt wird). Die Helden sind müde. Sie eilen schweigend durch die Gänge. Denis Hollenstein, der freundliche Leitwolf und Held des Spiels, spricht leise in ein paar hingehaltene Mikrofone und Diktiergeräte. Er habe einfach nie aufgegeben und immer wieder probiert, die Scheibe ins Tor zu bringen. Nun gelte es, für gute Erholung zu sorgen. Er ist demütig, bescheiden im Sieg. Keine grossen Sprüche. Das ist ein gutes Zeichen.
Jemand aus dem Umfeld des Klubs zitiert den berühmten Spruch des US-Basketball-Coaches Rudi Tomjanovich: «Never underestimate the heart of a Champion». Und will damit sagen, dass die Klotener aufgrund ihrer langen, ruhmreichen Geschichte eben doch Champions sind, die niemals, auch in einer aussichtslosen Situation nicht unterschätzt werden sollten.
Das ist wahr und weise gesprochen. Und doch nur die halbe Wahrheit. Nicht nur die Klotener sind aufgrund ihrer ruhmreichen Geschichte Champions. Auch die Lakers sind Champions. Sie haben soeben die Meisterschaft der zweithöchsten Liga gewonnen. Deshalb sind sie jetzt hier und fordern die Klotener im Kampf um den letzten Platz in der NLA heraus.
Kloten hat in dieser dritten Partie zum ersten Mal seine grössere Substanz über vier Linien in einen Sieg umgemünzt und die Lakers an den Rande der Tempo-Überforderung gebracht. Die statistisch erfasste Überlegenheit (67:42 Torschüsse) ist eindeutig, der Sieg bei aller Dramatik logisch. Und die Wende wäre nun logisch. Oder doch nicht?
Nein. Es ist noch ein weiter Weg. Wer noch Klotens letzte Zeit des Ruhmes, die Jahre der Titel von 1993, 1994, 1995 und 1996 erlebt hat, stellt verwundert fest: diese Rapperswil-Jona Lakers sind eine Kopie dieses ruhmreichen meisterlichen «Eisballetts».
Nun mag es vermessen sein, die Lakers als «Eisballett» zu bezeichnen. Von einem Ballett sind sie so weit entfernt wie eine Volkstanzgruppe vom russischen Staatsballett. Und doch: die Philosophie ist die gleiche. Auch das Spiel der Lakers lebt von einem nahezu perfekt eingespielten Kollektiv. Sie beherrschen diese Kunst, den Puck für sich arbeiten zu lassen. Deshalb brachten sie die (noch) höherklassigen Klotener in diesem Drama an den Rand einer Niederlage und vermochten trotz immer stärkerer gegnerischer Dominanz bis nach Mitternacht und über 100 Minuten standzuhalten.
Diese Lakers sind eine Kopie der letzten Klotener Meisterteams. Die Besetzung ist einfach ein wenig «billiger». Der flinke Melvin Nyffeler statt Reto Pavoni. Als Verteidigungsminister Fréderic Iglesias statt der grosse Anders Eldebrink (der später Trainer in Rapperswil-Jona werden sollte). Auf der Aussenbahn Michael Hügli statt Roman Wäger. Als spielbestimmender Center Dion Knelsen statt Mikael Johansson und als Kultfigur Antonio Rizello statt Felix Hollenstein.
Die fleissigen Klotener waren lange Zeit gegen diese Lakers der Verzweiflung nahe, wohl wissend, dass eine dritte Niederlage, ein 0:3-Rückstand in der Serie nicht mehr aufgeholt werden kann.
Denis Hollenstein war von allem Anfang an ein Leitwolf, ein Energiespieler und trieb seine Mitspieler an. Aber lange Zeit wollte nichts gelingen. Der flinke, aufmerksame Melvin Nyffeler liess sich erst 79 Sekunden vor der zweiten Pause zum ersten Mal bezwingen.
Mit schnellen, präzisen Gegenstössen hatten die Lakers während des ganzen Spiels immer wieder gute Abschlussmöglichkeiten. Klotens Torhüter Luca Boltshauser ist der beinahe vergessene Held dieses mitternächtlichen Dramas. Er hielt seine Mannschaft im Spiel. Ohne seine Heldentaten wäre alle Mühe umsonst gewesen. Er hat vielleicht seine bisher beste Partie für Kloten gespielt.
Die Zürcher haben nun von 0:2 auf 1:2 verkürzt. Ein 0:2 in einer Liga-Qualifikation aufzuholen ist nicht unmöglich. Biel hat es als NLA-Vertreter 2009 gegen Lausanne geschafft. Eine wundersame Rettung, die den Ruf von Kevin Schläpfer als Hockeygott begründete – jenen Ruf, den er bekanntlich diese Saison ausgerechnet in Kloten mit dem Untergang in den Playouts gegen Ambri eingebüsst hat.
Kloten, um 0:45 Uhr. Die Frisur sitzt und die @EHC_Kloten_1934 Fans singen sich durch die Nacht. #History #MySportsCH #HomeofSports #Ligaquali pic.twitter.com/yKncKWXJlY
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Aber wenn sich die Klotener in der NLA halten wollen, müssen sie noch dreimal und davon mindestens einmal auswärts in Rapperswil-Jona gewinnen. Der erste Sieg ist ein schöner, grosser, wichtiger, dramatischer, erkämpfter, erlittener, erzitterter Sieg – und die Rettung der Ehre ganz im Sinne der alten Garde des grossen Napoléon: «Kloten mag absteigen, aber es ergibt sich nicht.»
Schon gar nicht den Rapperswil-Jona Lakers.