In Volkes Stimme finden wir Wahrheit. Erst recht in der Hauptstadt der direkten Demokratie Helvetien. Ein besorgter älterer Herr fragt vor dem Derby gegen Biel: «Chunts äch guet mit äm SCB?» («Kommt es wohl gut mit dem SCB?»)
Es geht also nicht um die Frage, ob der SCB gegen Biel gewinnt. Es geht um viel mehr. Es geht um die Existenzfrage über den Tag, über das Spiel hinaus. Ob es wohl gut komme. Das mag zeigen, wie tief die Spuren der Krise sind.
Früher, als der SCB in seinem Selbstverständnis das Bayern München unseres Hockeys war, fragten Matchbesucherinnen und -Besucher ganz anders. Oder besser: Sie fragten nicht bange. Sie sagten etwa: «So, diä nämer hüt!» («Die packen wir heute!»). Oder die Frage, die über den Tag hinaus ging, war höchstens: «Längt's hüür wider?» («Reicht es diese Saison erneut zum Titel?») oder «Gägä wäm heimer äch im Finau?» («Gegen wen treten wir wohl im Final an?»).
Der Titan SCB ist in der Selbstwahrnehmung inzwischen Ajoie näher als Bayern München. Nur mit weniger trotzigem Stolz als der Aufsteiger. Diese neue Bescheidenheit und Mutlosigkeit sind der sportlichen Misswirtschaft der letzten Jahre geschuldet. Der Sturz ist tief, wir müssen es wieder einmal sagen: Meister 2016, 2017 und 2019 – und seither zweimal Rang 9 in der Qualifikation und aktuell Platz 10. Nur zwei Punkte mehr als Langnau. Sportlich harzt es also nach wie vor. Und mit dem Vergleich der Ausländer lässt sich billig polemisieren.
Die ausländischen SCB-Stürmer haben bisher in 13 Spielen 16 Tore und 18 Assists produziert = 34 Punkte.
Die ausländischen SCL-Stürmer haben bisher in 13 Spielen 23 Tore und 30 Assists produziert = 53 Punkte.
Noch Fragen?
Die Berner sind mehr denn je zwischen den Zeiten gefangen. Das spielerische Erbe der ruhmreichen Schablonenjahre unter Kari Jalonen werden sie nicht los. Eine neue spielerische Identität unter dem neuen Trainer Johan Lundskog haben sie noch nicht entwickelt.
Der SCB war unter Kari Jalonen eine der taktisch besten Mannschaften Europas, zelebrierte meisterliches Schablonenhockey und kassierte dreimal hintereinander (2016/17, 2017/18, 2018/19) am wenigsten Gegentore. Aktuell steht der SCB bei der Rangliste der Gegentreffer auf Position 10.
Nach zwei sportlichen Chaos-Jahren ist im SCB-Spiel wieder eine defensive DNA, eine Schablone zu erkennen. Aber es ist erst eine «Pausenplatz-Schablone». Eine Mischung aus eifriger Improvisation und dem Willen, anzuwenden, was man unter dem neuen schwedischen Trainer schon gelernt hat. Das Resultat ist ein pannenreiches Spiel, das die Fans durchaus zu unterhalten vermag. Aber den Coaches Sorge bereitet. Dazu passt, dass der SCB das miserabelste Powerplay der Liga spielt.
Was dem Berner inzwischen auch zu schaffen macht: Der SCB ist kein politischer Machtfaktor mehr. SCB-Manager Marc Lüthi hat nach den Reform-Narreteien seinen Einfluss weitgehend verloren. Wer auf Verbands- und Ligaebene Karriere machen will, ist nicht mehr auf bernisches Wohlwollen angewiesen.
Nun mag die Frage sein: na und? Aber Politik spielt eben doch eine Rolle. Achtung: Nun folgt Polemik. Aber basierend auf Fakten. Es geht um die Schiedsrichter.
In den ersten sieben SCB-Heimspielen der letzten Meistersaison (2018/19) haben die Schiedsrichter dem SCB nur zweimal gleich viele oder mehr Ausschlüsse als dem Gast zugemutet (52:91 Strafminuten).
In den ersten sieben SCB-Heimspielen der aktuellen Saison haben die Schiedsrichter dem SCB fünfmal gleich viele oder mehr Ausschlüsse als dem Gast zugemutet (64:56 Strafminuten).
Kommt dazu: In den ersten sechs Auswärtspartien der meisterlichen Saison 2018/19 wurde der Gastgeber vier Mal öfter bestraft als der SCB. Die Berner sind also auch auswärts geschont worden. Diese Saison ist der Gastgeber hingegen in sechs Partien nur zweimal öfter als der SCB sanktioniert worden.
Selbst wenn ich einen Rechenfehler gemacht haben sollte – der Trend ist klar. Alles bloss Zufall? Nein. Schiedsrichter-Benachteiligung? Ja und Nein. Nein, weil die Schiedsrichter die Berner gleich behandeln wie den Gast. Die Schiedsrichterleistungen sind auch in dieser Saison vorzüglich. Ja, weil es den Heim- und sonstigen SCB-Bonus erstmals seit Menschengedenken nicht mehr gibt.
Eher noch mehr als im Fussball gibt es im Hockey Situationen, in denen die Unparteiischen fachlich korrekt so oder so entscheiden können. Es liegt in der menschlichen Natur, dass ein grosser, politisch und sportlich mächtiger Klub in solchen «Doppel-Situationen» unbewusst bevorzugt oder mindestens geschont wird. Aktuell ist der SCB sportlich und politisch so kraftlos wie noch nie seit dem Wiederaufstieg von 1986.
Ich habe meine These des verlorenen SCB-Bonus bei den Schiedsrichtern einem hochrangingen Liga-General vorgetragen. Er dachte lange nach und sagte schliesslich: «Ja, da ist was dran.» Ende der Polemik.
Nun können wir billig kritisieren und die SCB-Zukunft in schwärzesten Farben ausmalen. Aber so ist es ganz und gar nicht. Noch ist der SCB in seiner Krise gefangen. Aber die Perspektiven sind so gut wie seit Jahren nicht mehr. Ja, wir dürfen ab nächster Saison eine SCB-Renaissance erwarten. Auf allen wichtigen Gebieten zieht Tauwetter herauf, zeichnet sich eine Besserung ab.
Das Torhüterproblem ist gelöst: Philip Wüthrich ist inzwischen von allen Goalies, die mindestens 9 Partien bestritten haben, in den wichtigen Statistiken die Nummer 2 der Liga. Wir dürfen davon ausgehen, dass die neue sportliche Führung mit einem Ober- und Untersportchef dazu in der Lage ist, seinen Vertrag um mehrere Jahre prolongieren wird.
Mit Romain Loeffel (30) kommt auf nächste Saison aus Lugano ein erfahrener Verteidiger und mit Joël Vermin (29) aus Genf einer der besten Stürmer der Liga. Diese zwei Transfers werden die Mannschaft stabilisieren.
Wir dürfen auch erwarten, dass es der neuen sportlichen Führung mit einem Ober- und Untersportchef gelingen wird, auf nächste Saison fast so gutes ausländisches Personal wie Langnau zu verpflichten. Der Fehleinkauf Kaspars Daugavins hat zwar einen Vertrag bis 2023. Aber wenn sich der lettische Nationalstürmer nicht steigert, kann sich der SCB eine vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses leisten. Der zerbrechliche Schönwetter-Schillerfalter Dustin Jeffrey hat einen auslaufenden Vertrag.
SCB-Obersportchef Raëto Raffainer ist ins IIHF-Council gewählt worden. Also in die Regierung des Eishockey-Weltverbandes. Als ehemaliger Sportdirektor kennt er sich auch im Fuchsbau des nationalen Verbandes gut aus. Schon bald wird allen klar werden, dass er zu einem der einflussreichsten Männer in unserem Hockey werden kann. Der SCB wird seine politische Bedeutung zurückgewinnen und die Schiedsrichter werden sich der Macht und des Einflusses der Berner wieder bewusst werden.
Trainer Johan Lundskog hat bis im Frühjahr Zeit, seine spielerischen und taktischen Vorstellungen durchzusetzen. Schafft er das, wird er einer der besten Trainer der neuen Generation. Scheitert er, dann wird sein Vertrag aufgelöst und vom Ober- und Untersportchef kann dann erwartet werden, dass ein besserer Nachfolger gefunden wird. Patrick Fischer hat auch anfänglich offensives «Pausenplatz-Hockey» gespielt. Inzwischen ist der Nationaltrainer bis in den WM-Final (2018) gestürmt und eine Lichtgestalt unseres Hockeys.
Der Zuschauerrückgang, in absoluten Zahlen der grösste der Liga, ist wirtschaftlich nicht existenzbedrohend. Vielmehr ein Zeichen, das der SCB mit einer Strategie-Änderung bei der in den nächsten Jahren unerlässlichen Modernisierung der grössten Arena Europas womöglich wirtschaftlich viel besser fahren kann: weg von der billigen Quantität, hin zur teureren Qualität. Weniger Stehplatz-Proletariat, mehr Sitzplatz-Mittelstand.
Für den SCB gilt eine alte französische Weisheit. Um sich vom gewöhnlichen Volk abzuheben, parlierte die Elite des alten Bern (Ancien Régime) in der welschen Sprache. «Reculer pour mieux sauter» («ein paar Schritte zurück, um dann weiter springen zu können.»). Das passt. Der SCB hat ja wahrlich genug Schritte zurück gemacht, um mit langem Anlauf weit in eine gute Zukunft zu springen.