Was macht die Faszination der NHL aus? Natürlich die grandiosen Stadien. Dann das «Big Business». Die NHL ist ein Milliarden-Business und mit Abstand die mächtigste, beste und finanzkräftigste Liga der Welt. Hier werden die höchsten Löhne bezahlt, im Schnitt über 2,5 Millionen.
Dann die wunderbare Geschichte. Die NHL ist eine der ältesten Sportkulturen der Welt (im November 1917 gegründet) und nirgendwo werden die Helden von einst so verehrt wie in Nordamerika. Und natürlich sind es die grossen Namen der Gegenwart. Die besten Spieler der Welt sind bei den 30 NHL-Klubs unter Vertrag.
Aber da ist noch etwas. Das Böse. Der fundamentale Unterschied zwischen dem europäischen Hockey und der NHL ist die Ausübung von Gewalt und Gewalt als fester Bestandteil der Kultur. Nie waren die Philadelphia Flyers in den USA so populär wie in den 1970er Jahren als sie sich zu zwei Stanley Cup-Siegen prügelten.
Sie waren populärer als die Edmonton Oilers zu den Zeiten von Wayne Gretzky. Aus dieser Zeit stammt der zynische Spruch: «Ich ging zu einem Boxkampf und auf einmal brach ein Hockeyspiel aus.» Damals wurden die Flyers als «Broad Street Bullies» verehrt. «Als Gewalttäter von der Broad Street». An der Broad Street stand ihr Stadion.
Ich gebe es zu. Obwohl ich das eigentlich nicht dürfte. Weil es politisch unkorrekt ist: Diese Kultur des Bösen hat mich schon immer fasziniert. Weil sie irgendwie zur amerikanischen Gesellschaft passt. Wenn die Handschuhe fallen, braust Jubel durch die NHL-Arenen. Faustkämpfe werden bejohlt und bejubelt wie Tore. Das Böse passt halt zum rauen, bisweilen archaischen Spiel. Ohne das Böse ist die NHL zwar immer noch eine grandiose, aber eben auch eine gewöhnliche Liga.
Aber was ist bloss passiert? Im November war ich in Toronto. Immerhin waren die Maple Leafs das Team, das letzte Saison noch am meisten Faustkämpfe provozierte. Aber ich sah in mehreren Spielen nicht einmal den Ansatz eines Faustkampfes. Nun bin ich nach Philadelphia gereist. Ins Epizentrum des Bösen.
Hier sitzen im Management die wahren Bösen aus der Vergangenheit. Präsident Paul Holmgren war als Spieler ein harter Junge mit mehr als 1800 Strafminuten. Cheftrainer Craig Berube hat als Spieler mehr als 3000 Strafminuten auf dem Gewissen und General Manager Ron Hextall gehört zu den berüchtigsten Stockschlägern in der Geschichte des Torhüterhandwerkes. Wenn irgendwo noch das böse alte NHL-Hockey zelebriert wird, dann doch in Philadelphia. Oder?
Aber auch hier gibt es die Beelzebuben des Hockeys nicht mehr. Die Philadelphia Flyers sind inzwischen den Kloten Flyers in jeder Beziehung ähnlicher als den ruhmreichen Philadelphia Flyers der 1970er Jahre. Ja, sie sind ungefähr so weich wie die Klotener – und haben ähnliche Probleme. Wie in Kloten gibt es auch in Philadelphia eine ruhmreiche Geschichte und eine triste Gegenwart.
Wie in Kloten ist der Besitzer ein Milliardär. Und wie in Kloten stehen die Flyers in Philadelphia kurz davor, die Playoffs zu verpassen. Die gestrige 2:5-Pleite gegen Columbus fühlt sich ähnlich an wie Klotens Punktverlust gegen die Lakers. Der typische Spieler der Philadelphia Flyers ist Mark Streit (635 NHL-Spiele/328 Strafminuten) und nicht mehr Dave «the Hammer» Schultz (608 NHL-Spiele/2706 Strafminuten).
Das Böse ist nicht mehr. Langsam aber sicher verschwindet die einst so tief verwurzelte Kultur des Faustkampfes. Die «Goons» verlieren ihre Arbeitsplätze. «Wir haben im Osten gar keine Goons mehr», sagt Mark Streit. Und tatsächlich: Die Statistik sagt, dass die Faustkämpfe seit der verlorenen Lockout-Saison 2004/05 in der NHL stark rückläufig sind. Es wird auf dem Eis so wenig geboxt wie noch nie. Die Zahl der «Fights» ist im Vergleich zur «guten alten Zeit» in den 1970er und 1980er Jahren um rund zwei Drittel zurückgegangen. Die Philadelphia Flyers verbüssen diese Saison pro Spiel noch halb so viele Strafminuten wie vor 20 Jahren. Bloss noch rund 10 pro Spiel.
Die NHL versucht seit Jahren über die Regeln die Gewalt auf dem Eis einzudämmen. Die Bürogeneräle in New York sind der festen Überzeugung, die Gewalt schade dem Image der NHL, sei schlecht fürs Geschäft und die Herren waren schon immer entsetzt über die Popularität der «Goons». Kein Wunder: Ligachef Gary Bettman kommt vom Basketball. Der Rechtsanwalt aus Manhattan ist seit 1993 im Amt und bei den Fans äusserst unbeliebt. Aber schon seine Vorgänger versuchten das Boxen aus dem Hockey herauszuhalten.
Wer sich als dritter Mann an einem Boxkampf beteiligt, wird seit 1977 in die Kabine geschickt. Um die Massenschlägereien zu unterbinden, werden seit 1987 alle unter die Dusche geschickt, die über die Bande springen um sich zu prügeln, und auch die Coaches werden bestraft. Seit 1992 wird der Spieler, der den Boxkampf provoziert, mit zusätzlichen zwei Minuten bestraft. Und inzwischen sind die Linienrichter ausdrücklich beauftragt, einen Faustkampf wenn möglich zu unterbinden. Sie haben auch gestern im Spiel zwischen Philadelphia und Columbus ein paar hoffnungsvolle Situationen gleich im Keime erstickt.
Doch alle Regeländerungen hatten jahrelang kaum Auswirkungen. Zu stark ist die Kultur der Gewalt im nordamerikanischen Hockey. Ja, «Fighting» wird von konservativen Kreisen noch immer als notwendig für das Funktionieren der härtesten Mannschaftssportart erachtet. Als eine Art «Selbstjustiz», als eine Kultur der Vergeltung, die ausserhalb der Regelwerke dafür sorgt, dass talentierte Spieler geschützt werden. Wenn Du meinem Star an die Wäsche gehst, dann gibt’s Prügel. Im alttestamentarischen Sinne werden Hiebe mit Hieben vergolten. Die «harten Jungs» hatten im letzten Jahrhundert Kultstatus und wurden verehrt wie die Superstars.
Gewalt, Brutalität und Vergeltung im alttestamentarischen Sinne haben in keiner anderen westlichen Gesellschaft einen so hohen Stellenwert wie in den USA. Zyniker sagen, die USA seien ja schliesslich nur dank Gewalt, Landraub und sonstigen Untaten erst entstanden. Und die USA sind die einzige zivilisierte Nation, die noch immer die Todesstrafe vollstreckt. Gewalt und Brutalität haben darum in dieser Gesellschaft, in ihren TV- Programmen und eben auch in ihrem Sport einen ganz anderen Stellenwert als in Europa. Und so unterscheidet sich das NHL-Hockey vom europäischen Hockey besonders in einem Punkt: In der Ausübung von Gewalt.
Das europäische Hockey hat die Brutalität mit dem Regelwerk von allem Anfang an aus dem Eishockey herausgehalten. Eine Kultur des Boxkampfes konnte gar nie entstehen. Nur in Nordamerika hat sich neben Torhütern, Verteidigern und Stürmern mit den «Goons» eine weitere Kategorie entwickelt. Also Spieler, die primär fürs Prügeln bezahlt werden.
Warum ist das alles vorbei? Wie ist das möglich? Nun, in Nordamerika ist etwas noch mächtiger als das Böse. Das Geschäft. Nicht die Regeln oder eine gesellschaftliche Läuterung haben dafür gesorgt, dass so wenig geboxt wird wie noch nie. Sondern die Salärbegrenzung. Weil jedes Team nur noch eine bestimmte Summe für Spielerlöhne ausgeben darf, verlieren die «Goons» ihre Jobs.
Toronto hat auf diese Saison mit Colton Orr und Frazer McLaren seine bösesten Jungs ausgemustert, die Philadelphia Flyers schickten diese Saison ihren einzigen «Goon» ins Farmteam. Durch den stetigen europäischen Einfluss und die 2005 eingeführte «Null-Toleranz» bei der Regelauslegung ist das Spiel noch schneller geworden. Heute ist die Belastung so hoch, dass jede Mannschaft vier Linien braucht. Niemand kann es sich mehr leisten, hauptsächlich mit drei Linien zu spielen und die restlichen Plätze mit zwei oder drei «Goons» aufzufüllen.
Bleibt noch die Frage: Ist sauberes Hockey ohne das Element des Bösen auch sicherer? Nein. Inzwischen hat das Eishockey in Nordamerika und Europa ein ganz anderes «Sicherheitsproblem». Weil das Spiel viel schneller geworden ist. Der Zusammenprall bei Checks wird heftiger (die Aufprallenergie erhöht sich im Quadrat zum Tempo) und es gibt immer mehr Gehirnerschütterungen.
Irgendwann wird die Forderung kommen, das Spiel müsse langsamer und sicherer gemacht werden. Und es wäre kein Wunder, wenn dann eine Rückkehr der … «Goons» thematisiert werden sollte. Das Problem der Gehirnerschütterungen mit der Rückkehr des Bösen zu lösen – das nennt man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.