«Vladimir Petkovic?» Lorik Cana sitzt im Trainingsanzug in der Loge eines Hotels in Bad Waltersdorf und schmunzelt. «Ja, den Vladimir kenne ich natürlich gut. Er war mein Trainer bei Lazio Rom und wir sind Cupsieger geworden.» Am nächsten Samstag aber spielen sie nun gegeneinander: Cana als Captain der albanischen Nationalmannschaft, Petkovic als Coach der Schweizer. «Vladimir war das Beste, was der Schweiz passieren konnte», sagt Cana. «Er ist ein hervorragender Trainer und ein feiner Mensch.»
Während zehn Tagen haben sich die Albaner in der Abgeschiedenheit der Steiermark auf ihre erste Teilnahme bei einer Europameisterschaft vorbereitet. Für Cana, der Ende Juli 33 Jahre alt wird, ist es das Highlight einer langen Karriere. Der Innenverteidiger ist die Ikone des albanischen Fussballs. Er hat sich als Erster seines Landes bei europäischen Grossklubs durchgesetzt, 2003 beim 2:3 in Genf gegen die Schweiz im Nationalteam debütiert und inzwischen über 90 Länderspiele auf dem Buckel.
AZ: Lorik Cana, wenn Sie an den 11. Juni und das albanische EM-Debüt denken ...
Lorik Cana: ... dann macht mich das sehr stolz und glücklich. Für mich geht ein Lebenstraum in Erfüllung.
Lorik Cana, was liegt für Albanien drin bei der EM?
Allein schon dabei zu sein, ist grossartig. Unsere Mannschaft besitzt eine Winnermentalität und will jedes Spiel gewinnen. Ich möchte Europameister werden! Ich weiss natürlich, dass wir im europäischen Fussball eine kleine Nummer sind. Aber wir haben in letzter Zeit gut gespielt, viel gelernt, ein grosses Herz und viel Passion. Unsere fantastischen Fans werden uns bei der EM eine grosse Hilfe sein.
Man weiss, dass Sie ein Patriot sind.
Das bin ich. Doch das sind alle Spieler unseres Teams. Wir sind ein wenig stolzer auf unsere Nationalität als zum Beispiel die Schweizer auf die ihre.
Was sind die Gründe dafür?
Wir haben viele Probleme gehabt in Albanien und Mazedonien; auch den Krieg im Kosovo. Viele unserer Spieler sind zwar in der Schweiz oder sonst wo im Ausland aufgewachsen. Aber alle haben immer auch Albanisch gesprochen, die albanische Mentalität bewahrt und sind stolz auf die albanische Geschichte. Das schweisst zusammen. Wir wollen unserem Land durch den Fussball Stolz und Anerkennung schenken. Die EM ist dafür perfekt.
Sie haben Granit Xhaka, Valon Behrami und Xherdan Shaqiri dafür kritisiert, dass sie für die Schweiz und nicht für Albanien spielen.
Ich habe gesagt, dass es für uns aus sportlicher Sicht schön wäre, würden diese grossartigen Spieler für Albanien spielen. Aber kein Einziger unserer Mannschaft sagt auch nur ein schlechtes Wort über sie. Ich bin ihnen sogar dankbar dafür, was sie tun.
Dankbar?
Sie leisten etwas ausserordentlich Wichtiges für Albanien und vor allem für die Albaner in der Schweiz. Viele Menschen unseres Volkes haben in diesem Land eine neue Lebenschance bekommen. Xhaka, Shaqiri und die anderen nutzen nun im Namen vieler Albaner die Chance, der Schweiz dafür Danke zu sagen, indem sie diesem Land durch den Fussball etwas zurückgeben. Was sie tun, ist grossartig. Aber natürlich sind auch sie Albaner wie wir, sie sind unsere Brüder.
Was bei den Brüdern Granit und Taulant Xhaka ja tatsächlich der Fall ist.
Xhaka gegen Xhaka – eine unglaubliche Story. Ich habe seit vielen Jahren zur Familie Xhaka eine sehr gute Beziehung. Ich weiss, dass es für die Brüder schwierig ist, gegeneinander zu spielen. Wenn sie aber auf dem Platz stehen, ist alles vergessen, und sie denken nur noch an den Sieg.
Lorik Cana, in Pristina geboren, ist mit seiner Familie als Sechsjähriger in die Schweiz gekommen. Sein Vater Agim war Fussballprofi und spielte unter anderem in der Türkei. Als dieser nach dem Karriereende heimwollte, brach der Jugoslawienkrieg aus und Canas Familie fand auf Vermittlung eines Freundes in Lausanne Unterschlupf. Agim spielte für den FC Montreux in der NLB, Lorik und seine zwei Schwestern besuchten in Lausanne die Schule und der talentierte Junge begann mit neun Jahren für Lausanne-Sports Fussball zu spielen. «Mein Vater war bei jedem Spiel und bei jedem Training dabei. Das war aber nicht immer ein Genuss, weil er Druck auf mich ausübte. Aber natürlich war das unter dem Strich eine grosse Hilfe und die perfekte Förderung.»
Der Klub ist bis heute in Lorik Canas Herzen geblieben. Er und sein Vater haben Trainer Fabio Celestini zum Aufstieg in die Super League gratuliert. Könnte er sich deshalb vorstellen, schon in Kürze für Lausanne aufzulaufen? «Warum nicht?», lacht Cana. Fest steht nur, dass er den FC Nantes verlassen wird. Möglich ist ein Engagement in China oder im Nahen Osten. Und: Wird er bald für den Kosovo spielen? Vor ein paar Wochen hat die FIFA den Kosovo aufgenommen. Dieser darf ab Herbst die Qualifikation für die WM 2018 in Russland spielen.
Sie stammen selber aus dem Kosovo; wäre es deshalb denkbar, dass Sie für diesen antreten, falls die FIFA einen Verbandswechsel zulässt?
Das Wichtigste für mich ist, dass der Kosovo nicht länger isoliert ist. Dass die Jungen ihren Traum von der Nationalmannschaft leben können und mehr Geld in die Infrastruktur und in die Liga gesteckt werden kann. Die Spieler im Kosovo mussten sich bisher wie im Gefängnis fühlen. Jetzt sind sie frei!
Aber Sie wären doch der ideale Captain für den Aufbau einer jungen kosovarischen Nationalmannschaft.
Ich werde kaum mehr für den Kosovo spielen. Wir müssen jetzt einfach die besten Lösungen für die zwei Mannschaften, Albanien und Kosovo, finden. 99 Prozent der Albaner wünschen sich zwar, es gäbe eine einzige starke Mannschaft. Aus politischen Gründen ist es aber nicht möglich.
Aus politischen Gründen konnten Sie 1999 auch nicht zu Arsenal wechseln. Während Granit Xhaka nun für 45 Millionen Euro zu den Gunners transferiert wurde, ist Ihnen der Transfer damals versagt geblieben.
Ich war 16 Jahre alt und spielte bei der U21 von Lausanne. Trainer Arsène Wenger wollte, dass ich bei Arsenal trainiere, und lud mich und meine Familie nach London ein. Wir waren schon am Flughafen in Genf, um nach England zu fliegen. Aber ich hatte damals den Status eines Flüchtlings und erhielt kein Visum.
Hat Sie die Schweiz sehr enttäuscht?
Nein, ich ärgerte mich mehr über Grossbritannien, weil es mich nicht einreisen liess. Andererseits: Wenn man viele Jahre in der Schweiz lebt, in die Schule geht, alle sechs Monate die Aufenthaltsbewilligung beantragt, aber keine Chance hat, den Schweizer Pass zu erhalten, ist das auch nicht einfach. So konnten wir den Kosovo nie besuchen. Ich habe während neun Jahren meine Familie nicht gesehen. Ich hatte sehr grosses Glück, in der Schweiz leben und lernen zu dürfen; auch Fussball zu spielen und ein guter Spieler zu werden. Aber nicht reisen zu können, war extrem hart.
Was ist Ihnen von den zehn Jahren in Lausanne geblieben?
Die Erinnerung an eine grossartige Zeit. Viele meiner besten Freunde leben in Lausanne. Ich gehe sie oft besuchen. Ich kann mir sogar gut vorstellen, dass ich nach meiner Karriere mit der ganzen Familie in Lausanne leben werde.
Nachdem der Transfer zu Arsenal geplatzt war, angelte sich Paris Saint-Germain den Lausanner Junior. Er schaffte den Sprung in die erste Mannschaft und wurde Teamkollege von Ronaldinho. Für ein paar Wochen war auch Hakan Yakin da, bis er von Trainer Vahid Halilhodzic weggeschickt wurde. Halilhodzic sagte später einmal: «Ich habe nie einen Spieler gesehen, der so hart an sich arbeitet wie Cana.» Fünf Jahre und einen Cupsieg später wechselte dieser zu Olympique Marseille.
Er wurde dort mit 24 Jahren Captain, und als er 2009 zum AFC Sunderland ging, war er der erste ausländische Spieler, der in der Premier League gleich Spielführer wurde. «Ich bekam einen sehr starken Charakter und eine starke Mentalität geschenkt, deshalb war ich fast überall Captain», sagt Cana. Später spielte er noch für Galatasaray Istanbul, Lazio Rom und zuletzt für Nantes. Der Basler Naser Aliji, der im Trainingslager das Zimmer mit Cana teilt, sagt: «Lorik ist ein total bodenständiger Typ.»
Wenn Sie auf den Schweizer Pass gewartet hätten, würden Sie bei der EM nun gegen Albanien statt gegen die Schweiz spielen und hätten bereits viele grosse Turniere bestritten.
(Lacht laut). Nein, mein Traum war es schon als Junge, einmal für Albanien zu spielen. Ich war 13 Jahre alt, als ich unsere Nationalmannschaft im Fernsehen gegen Deutschland sah. Ich erinnere mich, wie wir in unserer kleinen Wohnung in Cheseaux 30 Leute zu Besuch hatten. An diesem Tag habe ich mir gesagt: Eines Tages wirst du für Albanien auflaufen! Jetzt sind es schon 92 Spiele geworden.