Im Achtelfinal, dem 1:1 gegen Russland sei Dank. Algerien gegen Deutschland. Coach Vahid Halilhodzic sagt: «Das kleine Algerien gegen das grosse Deutschland.» Und er wird mittendrin sein: Djamel Mesbah.
Als Verteidiger einer der Stars in der algerischen Überraschungsmannschaft, wird er sich mutmasslich Deutschlands Mesut Özil annehmen müssen. Mesbah: Ganz kurze Haare, grimmiger Gesichtsausdruck, starker Linksfuss. Ex-Trainer Lucien Favre sagt: «Die Entwicklung ist schon verrückt. Es gibt immer Spieler, die einen anderen, speziellen Weg machen.» In Aarau auf der Bank, jetzt in Brasilien, dazwischen spielt er bei Milan. Eine Karriere wie aus dem Märchenbuch. Auf den ersten Blick.
Mesbah, heute 29-jährig, ist ein Dreikäsehoch, als seine Familie von Algerien nach Frankreich übersiedelt. Im lokalen Fussballklub steigt er ein als Junior, in einem Vorort von Annecy ist das, unweit der Schweizer Grenze. Trainiert und spielt vor sich hin, jahrein und jahraus, bis ihn Scouts entdecken. Die kommen von Servette Genf, Mesbah ist 17 Jahre alt und er zögert keine Sekunde.
Unter Marco Schällibaum schafft er es in die erste Mannschaft. Der damalige Trainer sagt Jahre später im «Blick»: «Ich habe sein Talent früh erkannt. Mesbah hatte einen unglaublichen Willen und einen starken Drang nach vorne.»
Mesbahs Qualitäten bleiben nicht unbemerkt. Der Ruf von Liga-Krösus Basel ertönt just dann, als man sich am Genfersee mit Finanzlöchern rumplagt. Der Algerier bleibt aber blass, schafft es beim FCB nie über den Status eines Ergänzungsspielers hinaus.
An der Seitenlinie steht Christian Gross, der seinen Flügelspieler später einmal wie folgt beschreibt: «Er war ein ungestümer Jungsporn, der die Welt erobern wollte, unberechenbar auf dem Platz, etwas unorganisiert, ein Charakterkopf, aber als Mensch durchaus angenehm.»
Zu allem Unglück verletzt sich Mesbah an der Leiste. Nach der fälligen Operation will er bei einem zweimonatigen Gastspiel bei Lorient wieder auf Touren kommen. Kommt er aber nicht, und muss sich stattdessen in Basel einem zweiten Eingriff unterziehen. In der Folge gerät er zwischen Stuhl und Bank. Mesbah sagt: «Ich war vom Klub und vom Umfeld beeindruckt, aber sportlich bin ich in Basel irgendwie vergessen gegangen.»
Zeit für einen Neustart, Zeit für den Wechsel zum FC Aarau unter dem Trainergespann Richard Komornicki/Jeff Saibene. Dort träumt man von einem grossen Coup, dort mausert Mesbah sich zum Stammspieler, dort rettet er seine Teamkollegen mit drei Toren in der Barrage vor dem Abstieg.
Aber dort landet er schliesslich auch wieder auf dem Abstellgleis, kriegt kein neues Vertragsangebot und macht den Abgang durch die Hintertür. Jeff Saibene, damaliger Assistenztrainer bei Aarau, im «Sonntagsblick»: «Man hat gesehen, dass er Potential hat. Aber er konnte es nicht abrufen. Als Typ war er impulsiv, er brachte viel Power mit. Seine Stärke waren die Flanken mit viel Drall. Wir waren uns aber nie sicher wegen der Position.»
Mesbahs ehemaliger Mitspieler Gürkan Sermeter charakterisiert ihn so: «Er war ein Kämpfer, temperamentvoll und schnell. Seine grosse Schwäche war sein rechter Fuss. Den brauchte er eigentlich nur, um ins Auto zu steigen.» Mesbah geht es wie Gökhan Inler: Seine Qualitäten werden in Aarau angezweifelt – in Italien startet er später durch.
Mesbah lässt sich nicht unterkriegen. Ein Charakterzug, der seine Fussballerlaufbahn prägen wird. Nächste Station: Luzern. Eine Saison, sechs Spiele. Man weiss um sein Talent, aber Trainer Ciriaco Sforza setzt nicht auf ihn: «Er hatte einen starken linken Fuss. Aber der Junge brauchte Zeit.» Mesbah ist zunehmend frustriert und bedauert gegenüber einem Reporter, «dass ich Servette damals nicht in Richtung Frankreich verlassen habe.»
Wieder kann der Algerier sein Talent nicht ausspielen, nach dem neuerlichen Rückschlag steht er am Scheideweg. Nicht einmal der Entscheid, nach Avellino in die Serie C zu gehen, liegt in seiner Hand. Aber diese Fremdplatzierung auf Leihbasis wird zu Mesbahs Rettung.
Sie ist der Anfang eines wundersamen Aufstiegs. Der Flügelspieler wird zum Aussenverteidiger umfunktioniert, für Avellino macht er 27 Spiele. Es folgt der Transfer zu Lecce, 82 Spiele, der Aufstieg in die Serie A. Und dann klopft Milan an.
Djamel Mesbah, das ist auf einen Schlag nicht mehr das ewige grosse Talent mit der weidlich verpfuschten Laufbahn. Ehemalige Weggefährten, Spieler wie Trainer, auch Fans, kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mesbah, temperamentvoll wie eh und je, aber nicht mehr so launig, unterschreibt einen Vierjahresvertrag beim Spitzenverein in der norditalienischen Metropole. Ein Schnäppchen für den kapitalkräftigen Klub. Weil Mesbah selbst jetzt einen Marktwert von einer Million Euro nicht überschreitet.
Mesbah wird in ungeahnte Höhen katapultiert und weiss nicht mehr, wie ihm geschieht. Wie könnte er auch. Er, der die Schattenseiten des Geschäfts kennt wie kaum ein Zweiter. Sein Gegenspieler heisst plötzlich Lionel Messi, der Ort der traumgewordenen Realität ist das Camp Nou in Barcelona, der Anlass die Champions League. Im Halbfinal der Coppa d'Italia schiesst Mesbah gegen Juventus Turin sein einziges Tor für die Rossoneri.
2012 war ein gutes Jahr für Mesbah, das beste seiner Karriere. Zur «Aargauer Zeitung» sagt er: «Ich fühle mich in Italien, sowohl als Fussballer wie Familienmensch, sehr wohl.»
Ein paar Monate nur währt das Glück. Mesbah strauchelt, mal wieder, und wird vom Berlusconi-Verein in einem Tauschgeschäft nach Parma abgeschoben. Seinen Platz bei Milan übernimmt Christian Zaccardo, 2006 Weltmeister mit der Squadra Azzura. In der Schinkenstadt wird Djamel Mesbah nicht glücklich, kann sich in elf Einsätzen aber immerhin ein Tor gutschreiben lassen.
Livorno erbarmt sich seiner, nicht wirklich aber sein Schicksal. Zwar spielt Mesbah, steigt mit dem Traditionsverein aus der Hafenstadt aber Ende Saison als Tabellenletzter sang- und klanglos ab. Der Abstieg des Teams als nur allzu bekanntes Sinnbild für eine Karriere im neuerlichen Sinkflug. Das war im Mai. Lange vor der Weltmeisterschaft.
Dass für Djamel Mesbah und seine Wüstenfüchse die WM-Endrunde im Achtelfinal zu Ende ist, davon ist auszugehen. Daran, dass Deutschland haushoher Favorit ist, gibt es nichts zu deuteln. Aber Djamel Mesbah wird alles dafür tun, eine gute Figur abzugeben. Sich auf der grossen Bühne noch einmal zu präsentieren. Seine Zukunft ist ungewiss.
Beide bisherigen Aufeinandertreffen haben die Nordafrikaner gewonnen. Zuletzt 1982, in der WM-Vorrunde, 2:1. Allein die Statistik spricht für Algerien. Djamel Mesbah aber weiss: Erstens kommt es anders. Und zweitens als man denkt.