Alex Frei, lassen sich an der WM Schlüsse ziehen über die Entwicklung des Fussballs?
Alex Frei: In Europa prägten in den letzten Jahren fünf Teams die Entwicklung des Fussballs. Barcelona vom Spielstil her. Juventus Turin vom Taktischen her. Bayern München bringt alles zusammen. Und Borussia Dortmund mit seinem schnellen Umschalten und dem offensiven Pressing. Dazu kommt Atlético Madrid, das mit seiner eigenen Art ohne Niederlage in den Champions-League-Final kam und zeigt, dass individuelle Klasse nicht zum Tragen kommt ohne funktionierende Mannschaft. Ich glaube, alle Mannschaften werden ihrem Spielstil an der WM treu bleiben – trotz Klima. Was ich immer toll finde, ist das Auftauchen einer Überraschungsmannschaft. Es gibt in jedem Turnier ein Team, das niemand auf der Rechnung hat, aber dann alle begeistert. Darauf freue ich mich jetzt schon.
Von wem erwarten Sie eine solche Überraschung?
Ich denke an Südkorea, an Japan, Mexiko kann eine Überraschung werden. Oder natürlich die Belgier. Sie haben sich im Schatten anderer zu einem Topteam gemausert.
Was trauen Sie der Schweiz zu in Brasilien?
Vieles! Es gibt zwei entscheidende Faktoren, das Startspiel und die Tagesform von einzelnen Spielern. Wie fühlt sich Drmic am Spieltag? Hat Shaqiri Kopfweh? Hat einer familiäre Probleme? Tauchen plötzlich Transfergerüchte auf, die ablenken? Wenn die Schweiz nur zwei oder drei Spieler hat, die nicht 100 Prozent fit und bei der Sache sind, dann wird es sehr schwierig.
Sie sprechen auch das Startspiel an. War vor vier Jahren zu viel auf den Auftakt gegen Spanien fokussiert?
Die Konstellation ist nun anders. Jeder weiss: Wenn die Schweiz gegen Ecuador gewinnt, ist sie mit einem Bein im Achtelfinal.
Darum ist es besser, dass dieses Spiel zuerst stattfindet.
Richtig. Der Sieg gegen Spanien hat etwas kaschiert. Vielleicht hat auch der eine oder andere im Team gemeint: Jetzt geht es von alleine! Und wie wir gewonnen haben, das war ja kein Spiel, das man sich vier Mal pro Woche auf DVD reinzieht.
Sämtliche Offensivspieler absolvieren ihre erste WM als Stammspieler. Können sie dem Druck standhalten?
Ich glaube, ein Shaqiri stellt sich nicht jeden Tag die Frage, ob er jetzt Druck hat von der Schweiz oder nicht. Er hat seit zwei Jahren jeden Tag Druck in München, nicht so viel wie Robben, Ribéry oder Schweinsteiger, selbstverständlich nicht, aber trotzdem. Das gilt für alle Jungen im Ausland. Ich denke, Drmic hat im vergangenen Jahr von allen Schweizern am meisten gelernt. Er spielte mit Nürnberg gegen den Abstieg, hat sich aufgelehnt und trotz der Negativ-Spirale überzeugt. Die Frage ist jetzt, wie er sich mit dem Abstieg auseinandersetzt. So etwas bleibt im Hinterkopf.
Auch während der WM?
Ja. Darum wäre es menschlich fatal, sich nicht aktiv mit den Erlebnissen auseinanderzusetzen. Ich hoffe, er zehrt von seinen positiven Erfahrungen, den 17 Toren, dem dritten Rang in der Torschützenliste, dem Transfer zu Leverkusen.
17 Tore in der ersten Bundesliga-Saison, das ist aussergewöhnlich.
Es gibt zwei Seiten. Man muss nicht sonderlich viel von Fussball verstehen, um zu sehen, dass Drmic ein guter Fussballer ist. Jetzt kommt die andere Seite: Er ist in der Schweiz nicht unbedingt als Torjäger aufgefallen, hat sich in der Bundesliga aber so etabliert. Selbstverständlich wird ihm Leverkusen Zeit geben. Aber die Bestätigung kommt jetzt. Nicht nur, was die Tore, sondern was die Leistung generell betrifft. Und zwar über Jahre hinweg.
Hat die Schweiz ihr Sturmproblem nach den Rücktritten von Ihnen und Marco Streller überwunden?
Ich denke, die Schweiz hatte nie ein besonderes Stürmer-Problem. Es gibt ganz generell immer weniger Torjäger.
Warum?
Das hat verschiedene Gründe. Torjäger sind vielmals eigenwillig, mit Ecken und Kanten, strotzen vor Selbstvertrauen. Das wird nicht immer nur gut angesehen. Wir machen häufig den Fehler, dass wir keinen Platz mehr lassen für Menschen, die anders denken. Aber das ist auch ein Gesellschaftsproblem. Wenn ein Achtjähriger in der Schule einen Pinguin mit nur einem Bein zeichnet, dann kommen sofort zwei Schulpsychologen, rufen die Eltern an und fragen, warum der Pinguin nur ein Bein hat. Vielleicht sieht das Kind den Pinguin in seiner Wahrnehmung aber so. Dann hat der Pinguin eben nur ein Bein, dann ist es eben so. Fertig.
Beim Torjäger ist das Denken ähnlich.
Genau. Der Verband und wir Vereine sind gefordert. Wenn 16-, oder 17-Jährige anders ticken, dann sollen wir das auch einmal zulassen – immer im Rahmen des Erträglichen natürlich.
Welches ist das beste Schweizer Nationalteam der Geschichte?
Diese Diskussion gibt es vor jedem Turnier (lacht).
Uns interessiert Ihre Meinung.
Jede Dynastie hat seine Klasse. Die 94er-Generation war verantwortlich für den Boom im Schweizer Fussball. Danach waren wir häufig nahe dran, aber nicht mehr an grossen Turnieren. Die Generation der «Titanen» entfachte 2001 mit der U21-EM den Boom wieder neu. Wir waren forsch, traten mit Selbstvertrauen auf und versteckten uns nicht hinter ehrenvollen Niederlagen. Diesen Spirit brachte Köbi Kuhn mit vier oder fünf Spielern ins A-Team. Nun ist die Generation am Drücker, die 2001 aufwuchs und sich heute sowieso nur noch über das Gewinnen definiert, all die Shaqiris, Xhakas, Stockers. Ich hatte das Glück, dass ich alle drei Generationen erleben und mit allen spielen durfte.
Eine WM wie 2006 wird es für die Schweiz wohl nie mehr geben. Kein einziges Gegentor erhalten – und trotzdem ausgeschieden im Achtelfinal gegen die Ukraine nach Penaltyschiessen. Trainer Kuhn wechselte Sie, den sichersten Penaltyschützen, damals in der 117. Minute aus. Wie häufig verfolgt Sie diese Auswechslung noch?
Das ist jetzt acht Jahre her. Ich bin überrascht, dass dieses Thema immer wieder aufkommt (lacht).
Das wird es noch lange …
Mich verfolgt diese 117. Minute nicht. Ich hatte und habe ein gutes Verhältnis mit Köbi Kuhn. Viel zu gut, als dass ich ihn nun fragen würde, warum er mich rausnahm. Ich wollte nie eine Antwort auf diese Frage und ich werfe Köbi nichts vor! Aber klar, wenn wir unter Kollegen diskutieren, dann ist diese Auswechslung manchmal ein Thema.
Werden Sie dann auch gefragt: «Wohin hättest du den Elfmeter geschossen?»
Ich gehe primär einmal davon aus, dass er reingegangen wäre. Wohin, weiss ich nicht. Nur: Wäre ich der erste oder der fünfte Schütze gewesen?
Zu Ihnen persönlich: Sie sind jetzt seit gut einem Jahr Sportdirektor beim FC Luzern. Was war stressiger, dieses eine Jahr oder die vier Jahre beim FC Basel als Stürmer?
Das Jahr in Luzern.
Haben Sie sich die Arbeit so vorgestellt bei Ihrer Unterschrift?
Vieles schon. Aber ich dachte auch, vieles sei einfacher. Ich wurde von zwei, drei Dingen überrascht. Ich kann und will noch viel lernen. Ich glaube nicht, dass man nach 14 Monaten sagen kann: Ich bin der perfekte Sportdirektor.
Können Sie konkreter werden?
Ich ging davon aus, dass ein Fussballteam viele Dinge selbst regelt. Dass die Selbstständigkeit grösser ist. Ich muss lernen, mehr in den Dialog zu gehen. Ich muss den Trainerstab noch mehr unterstützen. In dieser Konstellation sind wir beim FC Luzern alle neu. Carlos Bernegger als Trainer, Remo Gaugler als Scout, Andy Egli als Nachwuchs-Chef und ich als Sportdirektor. Wir mussten uns suchen und finden. In Anbetracht, dass wir alle neu waren, denke ich, haben wir die Aufgabe sehr ordentlich gelöst. Nun können wir im neuen Jahr viele Dinge angehen und wissen, wie der Laden läuft.
Luzern hat sich innert eines Jahres vom achten auf den vierten Platz verbessert. Trotzdem herrscht häufig von aussen erzeugte Unruhe. Warum?
Es kommt nicht bei allen gut an, wenn neue Leute Veränderungen anstreben, Ideen einbringen und damit gleichzeitig Menschen aus ihrer Komfortzone holen. Es gibt rund um den FCL Leute, die finden es lustig, wenn der FCL nicht erfolgreich ist – und hinten den Kulissen tun sie sogar alles dafür.
Eine Geschichte, die Sie enttäuschte, ist der Streit um die Cupfinal-Prämien.
Enttäuscht ist der falsche Ausdruck. Beim FC Basel, oder allgemein bei jenen Vereinen, bei denen ich spielte während meiner Karriere, war die Thematik vor einem Cupfinal nie: ‹Was bekomme ich an Prämien nach einer 0:2-Niederlage?› Wenn wir in den Cupfinal gingen, dann um ihn zu gewinnen. Silber interessiert niemanden. Es ging in Luzern nur um die Final-Prämien, nie um die Halbfinal-Prämien, wie kolportiert wurde. Diese waren bereits mit den Dezember-Löhnen überwiesen worden.
Sie haben zu Beginn fünf stilprägende Mannschaften genannt. Welchen Stil soll Luzern in Zukunft verkörpern?
Jeder Verein braucht eine eigene Identität. Falsch liegt, wer nur versucht, andere zu kopieren. Nach dem Verhindern des Abstiegs vor einem Jahr und dem Vorstoss auf Rang 4 kann man sagen: Der FCL hat seinen eigenen, offensiven Spielstil entwickelt. Der FCL war bestrebt, jedes Spiel zu gewinnen. Wir gehen – und das ist ein Kompliment an den Trainer – nach Basel, um zu gewinnen, nicht um Beton zu mischen.