Er, ein Weltenbummler? Ständig auf der Suche nach Neuem? Ein Mann, der sich gerne in Abenteuer stürzt? Ein Lächeln, dann die Antwort: «Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin eher langweilig. Ich mag Routinen.»
Dabei ist die Geschichte von David Wagner keineswegs langweilig, sondern gespickt mit Episoden, die sich aufregend anhören. Die aus dem Leben eines Menschen erzählen, der viel Aufregendes erlebt hat, ohne es gesucht, geschweige denn geplant zu haben. Und der nun bei den Young Boys gelandet ist, die zuletzt viermal in Folge Schweizer Meister geworden sind.
Als sich Sportchef Christoph Spycher nach Gerardo Seoanes Wechsel zu Leverkusen auf die Trainersuche macht, beschäftigt er sich mit mehreren Kandidaten und redet mit vielen Beratern. Einer von ihnen vertritt unter anderen die Interessen von David Wagner. Wagner? Spycher denkt: finanziell nicht zu stemmen. Darum: kein Thema. Aber der Berater signalisiert Gesprächsbereitschaft. Spycher trifft sich zu einem ersten Gespräch und spürt schnell, dass eine Verpflichtung nicht am Geld scheitern wird.
Nun sitzt Wagner auf der YB-Geschäftsstelle, trägt Arbeitskleidung und wirkt alles andere als gehetzt. Der 49-Jährige berichtet, wie das war mit den Verantwortlichen von YB, wie sie ihn überzeugten und dass er «ausschliesslich wegen des Bauchgefühls» zugesagt habe: «Nicht das Land war für mich das wichtigste Kriterium, auch nicht der Lohn, sondern die Zuverlässigkeit der Leute, mit denen ich zu tun habe.»
In jungen Jahren ist Wagner selber ein begabter Fussballer, sein Talent verhilft ihm zum Sprung in die Bundesliga. Mit 19 gibt er seinen Einstand bei Eintracht Frankfurt, schiesst danach Tore für Mainz in der 2. Liga, bevor er zu Schalke wechselt, 29 Einsätze absolviert und 1997 zum Team gehört, das den UEFA-Cup gewinnt. Sechs Länderspiele bestreitet er für die USA. Er ist zwar Sohn einer deutschen Mutter und eines thailändischen Vaters. Aber weil die Mutter nach der Trennung von ihrem Mann einen US-Bürger heiratet, erhält David auch den amerikanischen Pass.
Kurz vor dem 31. Geburtstag hört er auf. Darmstadt hat ihm zwar für die Zeit nach der Karriere eine Trainerstelle zugesichert, aber Wagner merkt: «Ich habe keinen Hunger mehr. Ich bin zweifacher Vater, und trotzdem sagt mir jemand, wann ich ins Bett gehen soll, wann ich was essen und trinken darf.»
Er nimmt ein Sport- und Biologiestudium auf, zieht an den Wochenenden Studentenpartys dem Matchbesuch vor, schaut nur selten die «Sportschau» und liest kaum Sportberichte mehr. Diese Distanz tut ihm gut, er sagt heute: «Ich legte diese Fussball-Scheuklappen ab und realisierte, dass es da draussen in der Welt Sachen gibt, die um einiges bedeutender sind.»
In die dreijährige Zeit der Fussball-Abstinenz fällt die Ernennung von Jürgen Klopp zum Cheftrainer des FSV Mainz. Klopp ist für Wagner nicht irgendwer, sondern ein enger Freund seit gemeinsamen Mainzer Zeiten und dessen Trauzeuge – «und trotzdem ging ich lange Zeit nicht mehr ins Stadion».
Die Leidenschaft für den Fussball kehrt zurück, als ein Freund ihm rät, er solle sich zum Trainer ausbilden lassen, als Ex-Profi mit Studium und höchstem Trainerdiplom hätte er eine Wildcard für eine Aufgabe im Profi-Geschäft. 2007 macht er nicht nur das Staatsexamen, sondern erwirbt auch die UEFA-Pro-Lizenz und erhält aus Hoffenheim das Angebot, die U19 zu übernehmen. Nach zwei Jahren wird sein Vertrag aber nicht verlängert. Wagner bezieht Arbeitslosengeld und macht sich an das zweite Staatsexamen.
Kurz vor dem Abschluss bietet Dortmund ihm an, das zweite Team zu übernehmen. Seine Frau ist nicht begeistert, sie wünscht sich, dass ihr Mann Lehrer wird. «Sie sagte mir: ‹Wir haben ein schönes Leben, ein fixes Gehalt, zwölf Wochen Ferien. Was wollen wir mehr? Und nebenbei kannst du eine Dorfmannschaft trainieren.›»
Aber Wagner möchte beweisen, dass er ein besserer Trainer ist als sie es in Hoffenheim glauben. Er zieht nach Dortmund, leistet erfolgreiche Arbeit. Ihm gefällt es so gut, dass er seiner Frau einmal sagt: «Unter diesen Voraussetzungen kann ich mir vorstellen, 20 Jahre hier zu bleiben.» Aber die Reise geht deutlich vorher weiter und führt ihn nach England. Wagner wechselt zu Huddersfield in die zweite englische Liga und wird Protagonist eines Märchens: 2017 steigt der Aussenseiter in die Premier League auf.
Wagner wird als Held verehrt, lernt aber auch Schattenseiten kennen, in Huddersfield wie später auch bei Schalke. «Der Trainerjob an sich ist das eine», sagt er, «aber das, was daneben hinzukommt, ist nichts, was Spass macht.» Beim Einkaufen wird er permanent um Selfies und Autogramme gebeten, also verzichtet er nach Möglichkeit auf solche Abstecher. «Sonst steht irgendwo im Internet, welche Schuhe sich Wagner gekauft hat». Im Restaurant lässt er sich den schlechtesten Platz geben, um nicht erkannt zu werden.
Der Emotionalität und der Schnelllebigkeit des Business begegnet er längst mit Gelassenheit. Er kann das viele Lob einschätzen, das er zu Beginn seiner Zeit bei Schalke 2019 erhält. Er schafft es, die Entlassung und kritischen Urteile etwas mehr als ein Jahr später rasch zu verarbeiten. «Viele glauben, dass das Fussballgeschäft der Nabel der Welt sei», sagt er, «ich sehe das ziemlich anders.»
Und ihn stört es auch nicht, wenn er praktisch in jedem Interview auf seine enge Bindung zu Jürgen Klopp angesprochen wird. Er sagt nur: «Wenn er nicht einer der überragendsten Trainer der Welt wäre, sondern Bäcker, würde sich nichts daran ändern: Wir wären auch so beste Freunde.»
Wagner mag es, Gruppen «zu begleiten und zu führen», so sagt er das. Das heisst auch: auf die Spieler einzugehen. Chris Löwe hat die Arbeitsweise Wagners bei Huddersfield kennengelernt, und wenn der deutsche Verteidiger heute zurückblickt, findet er nur wohlwollende Worte. «Je älter ich werde, desto klarer wird mir der Unterschied zwischen einem guten und einem weniger guten Trainer», sagt der 32-Jährige. «Der Gute hat die Kabine im Griff.»
Das heisst: «Er hält auch jene bei Laune, die auf dem Feld keine Hauptrolle spielen. Er sieht hinter jedem Fussballer auch den Menschen. Er geht auf ihn ein und gibt ihm zu verstehen, wie wichtig er ist. Wagner beherrscht diese grosse Kunst.» Und: «Wir hatten damals nicht unbedingt die Qualität einer Aufstiegsmannschaft. Aber Wagner bekam einen Teamspirit hin, der den grossen Erfolg überhaupt möglich machte.»
Bei YB tritt Wagner an, die Erfolgsserie fortzusetzen. Nach vier Meistertiteln in Serie kann es keinen anderen Anspruch geben, als den nächsten Triumph zu holen. Sportchef Spycher sieht in ihm den geeigneten Mann, um jeglichen Ansätzen von Bequemlichkeit im Team sofort entgegenzuwirken. «Mit seiner fordernden Art und den klaren Ideen bringt er beste Voraussetzungen mit». So sieht das auch Chris Löwe: «Er kann nicht nur eine grandiose Ambiance in einer Mannschaft schaffen, sondern auch Inhalte vermitteln.» Bevor er einen Gruss nach Bern schickt: «Ich wünsche David Wagner mit YB nur das Beste.»