«Ich hätte mir das Ende anders gewünscht»: Alain Sutter über seine Zeit bei St.Gallen
Was hat Ihnen nach den sechs Jahren beim FC St.Gallen die Motivation gegeben, sich wieder einem herausfordernden Projekt wie jenem bei GC zu verschreiben?
Alain Sutter: Zum einen die Überzeugung, dass ich weiss, was es braucht. Weil ich das in St.Gallen schon gemacht habe, von Null aus etwas entwickeln. Ich konnte meinen Rucksack füllen mit der Erfahrung einer Situation, in der es den totalen Turnaround gebraucht hat. Zum anderen auch, weil ich das Projekt in St.Gallen nicht zu Ende führen konnte. Deshalb war für mich von Anfang an nach der Freistellung klar, dass ich gerne nochmals ein Projekt übernehmen würde, um es auch zu Ende zu führen.
Wie sehr hat Sie das abrupte Ende im Januar 2024 beim FCSG getroffen?
Ich hätte es mir anders gewünscht.
Mit welchen Gefühlen gehen Sie am Samstag zurück in die Ostschweiz, wenn Sie mit GC erstmals auswärts auf St.Gallen treffen?
Ich freue mich. Ich kenne fast alle Menschen, die beim Verein arbeiten. Und werde viele Gesichter sehen, mit denen ich jahrelang arbeitete. Ich hatte eine wunderschöne Zeit in St.Gallen. Und vor allem freue ich mich für unsere Spieler, dass sie in einem Stadion spielen können, wo richtig gute Stimmung herrscht, wo viele Leute drin sind. Wo es einfach cool ist, Fussball zu spielen. Es wird schön werden.
Ist in der Beziehung zwischen Ihnen und Präsident Matthias Hüppi etwas zerbrochen?
Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge anschaut. Bei mir steht an erster Stelle die Dankbarkeit, dass sie mir in St.Gallen diese Chance gegeben haben, vor mittlerweile acht Jahren. Dass ich das Amt des Sportchefs ausführen durfte in dieser Phase ist nicht selbstverständlich – ich habe diesen Job vorher noch nie gemacht. Sie sind das Risiko eingegangen, haben mir Vertrauen geschenkt. Und die Freiheit gelassen, etwas zu gestalten. Wie gesagt, das Ende hätte ich mir anders gewünscht, aber das ist Teil des Geschäfts. Sie haben einen Entscheid getroffen. Am Schluss geht es darum, diesen zu akzeptieren. Das Leben ist nicht immer ein Wunschkonzert.
Nochmals: Wie ist die Beziehung zu Hüppi heute? Treffen Sie sich manchmal? Gehen Sie mit ihm ein Bier trinken? Haben Sie noch einmal über alles gesprochen?
Nein. Das ist auch gar nicht nötig.
Im nächsten Jahr steht wieder eine WM in den USA an. Die Weltmeisterschaft in Amerika 1994 hat dazu geführt, dass Sie in der Schweiz zur Ikone wurden. Das Tor beim 4:1 gegen Rumänien, mit gebrochenem Zeh – unvergesslich. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Es war ein riesiges Highlight für alle, die dabei waren. Eine Schweizer Mannschaft an einer WM? Das hätte ich mir damals nie erträumen lassen. Damals waren auch erst 24 Mannschaften dabei, nicht 48 wie 2026. Und die Schweiz war 28 Jahre nicht mehr an einem grossen Turnier. Sprich: Es war alles sehr speziell.
Es war die Zeit vor der Digitalisierung. Sind Sie selbst mittlerweile auch auf Social Media unterwegs? Oder ist das eine Welt, die Ihnen nicht zusagt?
Zunächst: Ich mag keine Vergleiche. Die Welt verändert sich, der Fussball verändert sich, die Gesellschaft verändert sich. Früher war anders, aber weder besser noch schlechter. Für mich ist die Veränderung immer bereichernd. Ich hatte immer gerne Veränderungen. Nun bin ich nicht einer, der den ganzen Tag in den sozialen Medien ist. Ich kenne mich aus und verschliesse mich auch nicht davor. Aber es nimmt auch nicht das ganze Leben ein. Ich versuche, einen gesunden Umgang zu finden für mich.
Lassen Sie sich gerne von jüngeren Generationen inspirieren?
Ja – aber dafür braucht es nicht die sozialen Medien. Das ist vielmehr eine Haltung, die ich habe. Ich bin generell offen für Neues. Auch für anderes, was zunächst vielleicht fremd ist. Und das ich auf den ersten Blick vielleicht auch nicht gutheisse. Ich finde eine offene Haltung und Neugier sehr wichtig, möchte mich der Welt und Ihren Veränderungen nie verschliessen. Ich denke, das hält jung.
Sie haben einmal gesagt, wenn Sie unter Stress besonders gefordert sind, seien Sie am stärksten. Woher kommt diese Fähigkeit?
Keine Ahnung. Es ist einfach so. Ich bin meistens am besten, wenn es um etwas geht.
Der Titel Ihres ersten Buchs lautet schliesslich: «Stressfrei glücklich sein». Da könnte man auf den ersten Blick meinen, Stress führe zu Unglück – was Sie entsprechend nicht unterschreiben würden?
Es geht vielmehr darum, zu erkennen, was Stress erzeugt und weshalb. Das ist der wichtige Schritt.
Um dann das zu eliminieren, was den Stress verursacht?
Wenn Sie wissen, weshalb etwas Stress erzeugt, können Sie für sich entscheiden, ob Sie diesen Zug fahren wollen – oder ihn vorbeiziehen lassen. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber Stress machen wir uns sowieso nur selbst. Wir haben vielleicht einmal viel zu tun oder herausfordernde Situationen, aber das heisst noch lange nicht, dass es uns stressen muss. Wenn ich viele Dinge an einem Tag machen kann mit tollen Menschen und dabei eine grosse Leidenschaft habe, dann ist das pure Freude.
Der Zürcher Fussball hat eine Woche voller Aufregung hinter sich. Winterthur entlässt Uli Forte. Der FCZ entlässt Mitchell van der Gaag. Gut, gibt es noch GC. Der Saisonstart ist zwar mit neun Punkten aus neun Spielen nicht herausragend, aber man hat das Gefühl, es wachse etwas zusammen. Wie ist Ihr Eindruck?
Ja, ich spüre einen gewissen Goodwill der Zuschauer. Wertschätzung für die Art und Weise, wie das neue GC auftritt. Sie sehen eine sehr junge Mannschaft, die nach vorne spielt. Mit Jungs, die alles reinhauen. Mit einer guten Mentalität auf dem Platz. Und einem Trainer, der einen komplett neuen Spielstil implementiert hat. Und vor allem sehen die Leute, dass ein klarer Plan und eine klare Philosophie zu erkennen ist.
Gut fünf Monate sind vergangen, seit Sie bei GC übernommen haben. Wie ist der Zustand des Vereins – schlimmer als Sie erwartet haben oder besser?
Ich bin extrem positiv überrascht, dass wir zu diesem Zeitpunkt schon so weit sind im Veränderungsprozess.
Mit welchem Bild von GC haben Sie den Job als Sportchef angetreten?
Ich wusste, dass der Verein in den letzten Jahrzehnten enorm viele Wechsel hinter sich hatte. Bevor der Los Angeles FC übernommen hat, gab es keine klare Identität. Kein klares Bild. Kein klares Ziel. Sondern das, was bei jedem Verein mit vielen Wechseln normal ist. Einer kommt, hat eine Idee, aber zu wenig Zeit, um sie umzusetzen. Dann kommt der nächste. Was war, ist noch nicht gefestigt, es geht alles verloren – und dann fängt dasselbe Spiel wieder von vorne an. So ist keine Identität möglich. Es war mir darum von Anfang an klar, dass ich einen Verein vorfinden werde, der keine klaren Richtlinien hat. Und dass es hauptsächlich darum geht, eine klare Kultur zu implementieren. Mit den Kernfragen: Wie spielen wir Fussball? Und wie gehen wir miteinander um?
Die Besitzer der Grasshoppers kommen aus Los Angeles. Wie kompliziert ist es, wenn der Verein aus der Ferne geführt wird?
Das möchte ich präzise ausdrücken: Der Verein wird nicht aus der Ferne geführt. Es sind die Besitzer, die aus der Ferne kommen. Aber der Verein wird von hier in Zürich geführt. Für die Verantwortlichen aus LA war von Anfang an klar, dass sie jemanden suchen, der hier Entscheidungen trifft und den Verein führt. Sie geben die Strategie vor, nach der wir uns richten. Und wir informieren, was gemacht wird – in ihrem Sinn und Geist. Es wurde und wird stets gesagt: Die Leute hier vor Ort bei GC haben nichts zu sagen, sie können keine Entscheidungen treffen. Das trifft nicht zu. Und das war für mich zentral, als ich diesen Job übernahm.
Das strukturelle Defizit bei GC ist enorm. Es beträgt bis zu 15 Millionen Franken pro Jahr. Wie viel Druck spüren Sie aus Los Angeles?
Kein Druck – aber eine klare Erwartungshaltung. Eines ist klar: Es muss schleunigst ins Bewusstsein von allen bei GC, dass wir nicht irgendwelchen Milliardären gehören, die ihr Spielgeld bei GC verschleudern. Wir gehören dem LAFC, das ist ein Business-Unternehmen, das nicht unendlich viel Geld zur Verfügung hat. Und deshalb ist unser Auftrag klar: Wir müssen das strukturelle Defizit reduzieren. Durch mehr Einnahmen und durch weniger Ausgaben.
Wie geht das?
Durch eine allgemeine Steigerung der Einnahmen bei den Zuschauern, Sponsoren, Merchandise und Transfers.
Dann ist es Ihnen egal, wo die Steigerung gelingt?
Nein, das ist mir nicht egal. Ein Zeichen dafür, dass man gut arbeitet, ist, wenn man überall mehr Einnahmen generiert. Das ist das Ziel.
Früher hat der Zürcher Geld-Adel bei GC investiert. Warum ist das heute nicht mehr so?
Einige haben viel Geld investiert. Ich denke, viele hatten nicht die Vision und die Idee, wie man den Turnaround bei GC schaffen kann. Das Stadion ist ein grosser Punkt. Solange dieses fehlt, ist es extrem schwierig, mit einer schwarzen Null abzuschliessen. In dieser Konstellation sollten alle im GC-Umfeld enorm dankbar sein, dass LA bereit ist, zu investieren. Mit dem Ausblick, dass es noch immer nicht sicher ist, wann das Stadion kommt – damit sich die Perspektiven ändern können. LAFC hat aber eine klare Idee, dass diese Zeit überbrückt werden kann. Um GC mittelfristig wieder erfolgreich zu machen, braucht es starke lokale Verankerung mit neuen Partnern und Investoren mit lokalem Bezug. Es ist nun unsere Aufgabe, wieder mehr Begeisterung rund um GC zu wecken.
Die ewige Frage ist: Gibt es in der Stadt Zürich genügend Platz und Interesse für zwei Vereine? Oder sollte es dereinst zur Fusion kommen?
Selbstverständlich hat es Platz für zwei Vereine. Es gibt nichts Schöneres als Derbys in der Meisterschaft. Das ist das Salz in der Suppe. Gerade für eine Stadt wie Zürich ist das extrem bereichernd. Man sollte sich eher daran orientieren, dass ein Zürcher Verein nachhaltig erfolgreich ist. Das muss das Bestreben des Zürcher Fussballs sein. Und zwar von jedem Klub.
Zuletzt mehrten sich die Stimmen von GC-Fans, dass sie in der Stadt Zürich aus Angst vor Gewalt nicht mehr im GC-Shirt herumlaufen können. Wie erleben Sie diese Thematik?
Ich finde, dass Gewalt in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr haben sollte. Wir sollten doch mittlerweile in unserer Evolution so weit fortgeschritten sein, dass man Konflikte, Rivalitäten oder was auch immer ohne Gewalt regeln kann.
Ich gebe Ihnen Recht. Aber wenn wir in den letzten Jahren auf die globale Entwicklung schauen: Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza. Und ein amerikanischer Präsident Trump, der mehr Brandbeschleuniger als Brückenbauer ist. Wie schauen Sie auf diese Entwicklungen?
Es sollte in diesem Interview um Fussball und nicht um globale und politische Entwicklungen gehen. Da möchte ich mich nicht äussern.
Zurück zum Fussball. Nehmen Sie sich bereits als Identifikationsfigur von GC war? Bis auf Amir Abrashi sind davon ja sehr wenige übrig geblieben.
Es war für alle klar: Wenn ich hier dazukomme, werde ich sofort zum Gesicht des Vereins. Auch wegen meiner Vergangenheit bei GC ist logisch, dass dies schneller geht als es bei jemandem sonst der Fall wäre. Nur: Am Ende schaffen wir Identifikation nicht durch Personen, sondern durch das Auftreten, durch gute Arbeit und unsere Art und Weise, wie wir Fussball spielen. Es nützt nichts, einfach einen Namen oder ein Gesicht vor die Kameras zu stellen.
Inwiefern hilft Ihnen die Vergangenheit als GC-Spieler heute als Sportchef?
Null.
Null?
Null. Es hat keine Relevanz.
Sie haben doch etwas mehr Rückhalt rund um den Verein und einen kleinen Vertrauensvorschuss im Vergleich zu einem Sportchef aus dem Ausland.
Vielleicht ist das so für die Fans und Medien. Aber das hat nichts mit meinem Job zu tun. Im Bezug darauf, meinen Job möglichst gut auszuüben, hat meine GC-Vergangenheit keine Relevanz.
Als Spieler waren Sie bei Bayern München. Nun haben Sie wieder mehr mit Bayern München zu tun…
… weil unser Besitzer, der Los Angeles FC eine Kooperation mit Bayern München hat. Dadurch entsteht der Link.
Also gibt es keine Überschneidungen im Alltag?
Doch, diese gibt es. Schon nur durch die beiden Spieler, die von den Bayern zu uns ausgeliehen sind (Lovro Zvonarek, 20, und Jonathan Asp Jensen, 19, d.Red). Wir arbeiten daran, dass sich die Bayern denken: Hey, das ist spannend. Unsere Top-Talente, die bei uns noch nicht spielen, gehen nach Zürich. Weil sie dort gut entwickelt werden. Ich hoffe, dieser Austausch wird immer intensiver.
In vergangenen Saisons hatte man das Gefühl, es kamen einfach mal Spieler von den Bayern zu GC – ohne wirklichen Plan oder Nutzen. Nun ist das mit Zvonarek und Asp Jensen anders. Wie wichtig ist Ihnen, dass die Bayern-Leihspieler wirklich funktionieren?
Sehr wichtig. Damit erarbeitest du dir im Markt ein Image. Dass auch künftig Vereine, die viele gute Spieler in ihren Reihen haben und für diese einen Platz suchen, an dich denken.
Gibt es auch ein weinendes Auge, weil klar ist: Diese Spieler bleiben nur ein Jahr?
Überhaupt nicht. Wenn Asp Jensen in einem Jahr den Schritt in eine grosse Liga machen kann, dann haben wir alles richtig gemacht. Es ist ja Sinn und Zweck der Leihspieler, dass wir sie weiterentwickeln. Wir wissen genau, welche Verträge wir unterschreiben. Und vielleicht kommt ja der Spieler zum Schluss: Doch, für meine Entwicklung wäre es gut, nochmals ein Jahr anzuhängen.
Welche Qualitäten von Gerald Scheiblehner haben Sie überzeugt, um ihn zum GC-Trainer zu machen?
Es gibt immer zwei Dinge. Erstens die Frage, wie er den Fussball sieht. Welchen Fussball hat er in sich? Das ist das Wichtigste. Und zweitens der Umgang mit den Menschen, welches Menschenbild hat er? Beide Dinge sind total kongruent mit meiner Auffassung.
In der Zeit vor Ihrer Tätigkeit als Sportchef sagten Sie Ihrer Frau einmal: Warum denkt eigentlich niemand an mich, wenn es darum geht, einen solchen Posten zu besetzen. Seit wann reizt Sie die Position des Sportchefs?
Es gibt keinen speziellen Zeitpunkt. Es hatte mehr mit meiner Entwicklung zu tun. Mit den Dingen, die ich gemacht habe, speziell in meiner Coaching-Praxis, wo ich Firmen und Menschen in schwierigen Prozessen begleitet habe. So bekam ich das Gefühl: mein Rucksack ist gefüllt, es reizt mich, zu sehen, ob das auch im Fussball funktioniert. Darum bin ich dem FC St.Gallen so dankbar, dass ich diese Chance erhalten habe und auch in der Realität sah: Ja, meine Methoden funktionieren.
Was ist das Spannendste in der Führung eines Fussballklubs, wo manchmal ein kleines Detail so vieles auslöst?
Das Spannendste ist wie überall der Mensch. Sobald du verschiedene Menschen zusammen hast, entstehen Dynamiken. Das zu lenken und zu moderieren, ist extrem spannend. Auf den Fussball bezogen frage ich mich: Wie schaffe ich es, mit meinen Mitgestaltern eine gesunde Kultur zu entwickeln?
Was braucht es, damit die Menschen das Beste aus sich herausholen können?
Ein gesundes Umfeld. Eines, das erlaubt, sich selbst zu sein und sich so zu entfalten, wie es einem entspricht.
Können Sie dieses «gesunde Umfeld» genauer definieren?
Man soll so sein können, wie man ist. Und nicht so, wie man ihn gerne hätte. Menschen finden sich vielfach in einem Umfeld wieder, wo sie sein müssen, wie man es von ihnen erwartet – und nicht so, wie es ihnen entspricht. (riz/aargauerzeitung.ch)
