Alt? Tom Lüthi wird im September 34. Zu jung, um Bundesrat zu werden. Aber schon fast, aber nur fast, zu alt, um die zweitwichtigste Töff-WM zu gewinnen. Valentino Rossi, der Grösste von allen, ist 2009 zum wahrscheinlich letzten Mal im Alter von 30 Jahren Weltmeister geworden.
Tom Lüthi hat seinen ersten GP 2005 gewonnen. Seit 15 Jahren ist er ein Siegfahrer. So lange haben sich auf so hohem Niveau nur zwei heute noch aktive Fahrer gehalten: Valentino Rossi (40) und Andrea Dovizioso (34). Ob die beiden auch diese Saison siegen werden, ist ungewiss.
Tom Lüthi mahnt am Vorabend zum Start der Moto2-WM 2020 an den Helden aus einem Roman von Ernest Hemingway: «Der alte Mann und das Meer» erzählt den epischen Kampf zwischen einem alten, erfahrenen Fischer namens Santiago und seinem Ringen mit einem gigantischen Marlin – der größten Fang seines Lebens gelingt ihm.
Tom Lüthi wie der alte Fischer Santiago: Auch er hat 2020 die Chance, den grössten Fang seines Lebens zu machen und den zweitwichtigsten WM-Titel zu gewinnen. Aber es wird ein ebenso epischer, gefährlicher Kampf wie im Roman des Literatur Nobelpreisträgers.
Die Herausforderung ist sogar noch grösser als für den Romanhelden. Es wird nicht nur ein Ringen zwischen Menschen und Meerestieren. Es ist ein Kampf um Zentimeter bei mehr als 200 Stundenkilometer an der Grenze zur Todeszone mit seinen Verfolgern und den Tücken der Technik.
Die Moto2-Klasse ist ein «Durchgangslager zum Ruhm»: Jeder versucht, so schnell wie möglich in die «Königsklasse» MotoGP aufzusteigen. Nur dort gibt es das grosse Geld und die ultimative Anerkennung, ein echter Kerl zu sein. Ganz oben bekommt nur einen Vertrag, wer dazu in der Lage ist, in der Moto2-Klasse Rennen zu gewinnen. Der WM-Titel ist unerheblich. Tom Lüthi hat deshalb eine andere Ausgangslage als seine Rivalen: für ihn zählt nach einer langen Karriere nur der Titel und nicht der Ruhm des Tagessieges.
So kommt es, dass Tom Lüthi gegen Konkurrenten antritt, die fahren, als gäbe es kein Morgen und Risiken eingehen, die er eigentlich nicht eingehen sollte, wenn er den Dauerwettbewerb Moto2-WM gewinnen will. Aber ans Limit muss er doch gehen. Deshalb ist er am Freitag gestürzt – wie auch seine jungen, wilden Herausforderer Lorenzo Baldassarri (23), Jorge Navarro (24), Enea Bastianini (22), Remy Gardner (22) und Augusto Fernandez (22). Wahrlich, ein verrücktes erstes Rennen (Sonntag, 16.00 Uhr live SRF) und eine verrückte WM bahnen sich an.
Um Weltmeister zu werden, muss alles passen: das Team, die technische Betreuung, die Motivation, die Erfahrung, die Fitness und die mentale Robustheit. Erst recht bei einem Sport, bei dem so viele unberechenbare Einflüsse wie die Technik oder die Qualität der Einheitsreifen eine Rolle spielen. Qualitätsmängel der Reifen dürften eine der Ursachen für die vielen Stürze am Freitagnachmittag sein.
Besser als 2020 waren die Voraussetzungen noch nie. Sie sind sogar besser als vor der Weltmeistersaison 2005 (125 ccm), die Tom Lüthi als Aussenseiter begonnen hatte. Letzte Saison standen ihm Alex Marquez und Brad Binder vor der Sonne. Beide sind nun in die Königsklasse aufgestiegen. Automatisch fällt dem Emmentaler die Favoritenrolle zu. Und er ist so gut wie noch nie. Das gilt auch nach dem «schwarzen Freitag».
Die ersten offiziellen Tests hatte Tom Lüthi dominiert, bei den zweiten offiziellen Tests war er ein Hinterherfahrer (13.). Im ersten Training zum GP von Katar ist er am Vormittag der schnellste und nach den zwei Stürzen im zweiten Training rutscht er auf Rang 11 ab.
Bestzeiten und Stürze, zuletzt beides am gleichen Tag. Ist er nun Favorit oder doch nicht? Er ist immer noch Favorit. Rückschläge gehören zu einem Dauerwettbewerb Töff-WM, der im März beginnt und im November endet. Entscheidend ist die Fähigkeit, diese Rückschläge wegstecken zu können.
Tom Lüthi war am Freitagabend, durchgeschüttelt von zwei Stürzen, cool wie eh und je. Sein Selbstvertrauen ist nicht erschüttert worden. Er ist so gut drauf, so fit, so motiviert und mental so stabil wie nie.
Der alte Mann auf der Höllenmaschine kann den grossen Fisch (WM-Titel) fangen wie der alte Santiago in Ernest Hemingways Roman den Marlin.