Reist er nun ab oder nicht? Plötzlich verbreitet sich das Gerücht wie ein Lauffeuer. Im Zentrum des Interesses: Wout van Aert. Die Frau des 28-jährigen Belgiers ist hochschwanger, die beiden erwarten ihr zweites Kind. Bereits vor dem Start der Tour de France stellte der Olympiazweite von Tokio klar, dass er bei der Geburt die Koffer packen würde.
Das war lange bekannt, doch die Gerüchteküche richtig befeuert hatte der dänische Sieger der diesjährigen Tour de Suisse, Mattias Skjelmose. Im dänischen TV plauderte er darüber, dass ihm zu Ohren gekommen sei, dass van Aert am Dienstag abreisen würde. Nur der Betroffene selbst wusste von seinen angeblichen Plänen nichts. «Ich habe gerade mit meiner Frau telefoniert, und alles scheint unter Kontrolle zu sein», zeigte sich van Aert überrascht. Er bestätigte nochmals, dass der errechnete Geburtstermin des zweiten Sohnes kurz nach dem Tour-Ende liege.
Dabei dürfte es sich bei der Konkurrenz vor allem auch viel um Wunschdenken gehandelt haben. Denn eines ist klar: Müsste Wout van Aert die «Grande Boucle» vorzeitig verlassen, würden sich die Chancen von Jonas Vingegaard, das gelbe Trikot bis nach Paris zu tragen, drastisch verschlechtern.
Wout van Aert ist für den dänischen Vorjahressieger nämlich sein Edelhelfer, im Fachjargon als Domestik bezeichnet. Der 28-jährige Belgier triumphiert bei Eintagesklassikern, Zeitfahren, Sprints und überzeugt mit Kletterqualitäten. Zudem ist er dreifacher Weltmeister im Cyclocross. Er ist damit das Schweizer Taschenmesser im Fahrerfeld, bietet für jede noch so knifflige Aufgabenstellung die passende Lösung. Kurz: der kompletteste Radprofi.
Es wäre ein äusserst spannendes Experiment, wenn man den Belgier bei einer Grand Tour als Leader, als Gesamtklassementsfahrer aufstellen würde. Doch mit Jonas Vingegaard und Primoz Roglic sind die Rollen bei Jumbo-Visma klar verteilt. So verausgabt sich der Allrounder für seinen Captain. Besonders imponierend war das im vergangenen Jahr. Als er beispielsweise nach einem Defekt von Vingegaards Fahrrad auf einer Kopfsteinpflaster-Etappe auf ihn wartete, Windschatten bot und ihn wieder zurück ins Feld führte. Oder als er sich in den Pyrenäen hinauf nach Hautacam zurückfallen liess, um als Lokomotive das Tempo zu machen. Zusammen mit Vingegaard zermürbten sie Pogacar so lange, bis dieser nicht mehr folgen konnte. Überraschend ist das auch, weil der 1.90-Meter-Mann mit 78 kg über 18 Kilogramm mehr als der Tour-Sieger des vergangenen Jahres über den Berg schleppen muss.
«Danke, Wout van Aert. Er ist einfach der beste Radfahrer der Welt. Er ist unglaublich», bedankte sich Vingegaard später bei der Siegerehrung vor dem Triumphbogen, im Wissen, dass der Tour-Sieg ohne seinen Teamkameraden wohl nicht möglich gewesen wäre.
Auch in diesem Jahr lässt er seinen bisher spektakulärsten Auftritt auf der sechsten Etappe in den Pyrenäen folgen. Rasch zog er mit einer Ausreissergruppe an die Spitze, flog regelrecht über den Tourmalet und wartete dann in der Abfahrt auf Vingegaard. Am Tag zuvor konnte dieser seinen Widersacher Pogacar distanzieren und wollte ihm bei der nächsten Gelegenheit gleich einen weiteren Schlag Richtung Magengrube verpassen. Van Aert zog seinen Leader wieder hinauf, bis er nicht mehr konnte, und erfüllte damit seinen Teil. Doch diesmal waren sie im Gegensatz zum Vorjahr den Slowenen nicht losgeworden - ganz im Gegenteil. Es war Pogacar, der zu allem Übel als Erster auf dem Gipfel ankam.
Weshalb gibt sich dieser Alleskönner mit der zweiten Geige zufrieden? Einerseits, weil er dafür fürstlich entlöhnt wird. Im vergangenen Jahr unterschrieb er bei seinem Team einen Vierjahresvertrag, der knapp zehn Millionen Franken einbringen soll. Darüber hinaus kommen lukrative Werbedeals, beispielsweise jener mit dem Energydrink-Giganten Red Bull hinzu. Andererseits aber auch, weil er trotz seiner Rolle als Edelhelfer Freiheiten geniesst und auch um Etappensiege fahren darf.
Das sorgt in der Equipe jedoch mitunter auch für Reibungen. So war dies etwa in der neusten Netflix-Serie «Tour de France: Im Hauptfeld» zu beobachten, als sich Vingegaard angesäuert zeigte, weil der Belgier in der 4. Etappe für einmal nicht auf ihn wartete, um der Konkurrenz zu enteilen, und als Solist triumphierte. Im letzten Jahr konnte er drei Etappensiege feiern, was seinen Hunger auf den Erfolg stillen konnte. Doch in diesem Jahr will es noch nicht klappen. Mit einem zweiten und einem dritten Platz konnte er das höchste Treppchen auf dem Podium bis anhin noch nicht erklimmen.
Das änderte sich auch am Donnerstag nicht. Zu Beginn des Rennens versuchte er zwar sein Glück als Ausreisser, doch letztlich musste er sich mit dem 62. Rang zufriedengeben. Doch wie lange ist er noch bereit, sich in den Dienst seiner Equipe zu stellen, wenn die persönlichen Erfolge ausbleiben? «Ich kann mir gar nicht vorstellen, hinten im Feld herumzufahren und mir die Gegend anzuschauen. Ich brauche jeden Tag ein Ziel», gab er letztes Jahr zu Protokoll.
Wout van Aert wird mit Sicherheit in den kommenden Tagen nochmals versuchen, sein Konto von neun Tour-Siegen weiterhin aufzubessern. Ausser, der Edelhelfer muss kurzfristig doch abreisen, um in eine andere Rolle zu schlüpfen. Dann dürfte er vor allem beim Wechseln von Windeln gefragt sein. (aargauerzeitung.ch)