«Ou, ou, wer fliegt hier um? Das ist doch nicht etwa Hoogerland? Was ist da passiert?» Die Kommentatoren des holländischen Fernsehens NOS sind schockiert. Der Unfall, der sich am Sonntag, dem 9. Juli 2011 ereignet, sieht schrecklich aus.
Ein Begleitauto des französischen Fernsehens setzt auf einer engen Strasse während der 9. Etappe der Tour de France zu einem Überholmanöver an und touchiert dabei Juan Antonio Flecha. Der Spanier verliert die Kontrolle und stürzt vom Rad. Dabei reisst er den Holländer Johnny Hoogerland mit, welcher spektakulär in einen Viehzaun knallt und sich am Stacheldraht hässliche Wunden zuzieht.
Wie in der Wiederholung klar wird, hatte das Begleitauto die Situation komplett falsch eingeschätzt und musste in letzter Sekunde einem Baum ausweichen.
Rund 36 Kilometer vor dem Ziel liegt Johnny Hoogerland zusammen mit Juan Antonio Flecha und drei weiteren Ausreissern noch mit fünf Minuten Vorsprung vor dem Peloton und macht sich Hoffnungen auf den Tagessieg – jetzt muss er sich plötzlich aus den Fängen des Stacheldrahtzauns befreien.
Obschon seine Wade regelrecht aufgeschlitzt ist, zwingt sich Hoogerland zurück in den Sattel und schleppt sich blutüberströmt ins Ziel. Über 16 Minuten beträgt der Rückstand von Hoogerland und Flecha im Ziel. Dennoch darf sich der Niederländer bei der Siegerehrung das Trikot des Bergpreisleaders überstreifen. Die Schmerzen sind gross, es fliessen die Tränen.
Und irgendwie hat Hoogerland am Ende gar Glück im Unglück gehabt, wie er nach dem Rennen durchblicken lässt: «Wir können froh sein, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist. Das war ein schrecklicher Unfall, aber ich habe zu Flecha gesagt: Wir sind noch am Leben, Wouter Weylandt ist bei seinem Unfall am Giro gestorben.»
Mit 33 Stichen wird der Holländer am selben Abend zusammengeflickt. Der Chauffeur des Begleitautos wird umgehend von der Tour suspendiert, er hat das Überholverbot missachtet. «Er hat es nicht extra gemacht, aber ich verzeihe ihm trotzdem nicht», urteilt Hoogerland über seinen Peiniger. «Ich hatte die Chance auf einen Etappensieg, ich hätte das Bergtrikot vielleicht bis nach Paris bringen können.»
Am darauffolgenden Tag steht für den Tour-Tross ein Ruhetag auf dem Programm. Hoogerland beschliesst trotz des Horrorsturzes nicht aufzugeben. Statt die ramponierten Beine hochzulagern, steigt der Radprofi auch am rennfreien Tag auf sein Arbeitsgerät und trainiert für die folgenden Etappen. «Die Tour de France gibt man nicht einfach so auf», so Hoogerland.
Und tatsächlich: Der 28-Jährige zieht das Ding durch und fährt die Tour de France zu Ende. Nicht nur das, immer wieder ist der Kämpfer an der Spitze zu sehen und führt Fluchtgruppen an. Doch das Bergtrikot muss er nach der 12. Etappe abgeben und wird es nicht mehr zurückerhalten. Dennoch: Hoogerland hat sich mit diesem heroischen Kampf einen ganz speziellen Platz in der Tour-de-France-Geschichte gesichert.
In der Folge verklagt Hoogerland die Produktionsfirma, für die das Auto unterwegs war. Doch der Prozess zieht sich in die Länge. Erst drei Jahre später, im Juni 2014, wird die ganze Angelegenheit ad acta gelegt. Der nach wie vor als Radprofi tätige Holländer erhält eine Schadenersatz-Zahlung.
«Es hat sehr lang gedauert, aber ich bin froh, dass es nun hinter mir liegt», kommentiert Hoogerland den Gerichtsentscheid. Wie viel Geld der 31-Jährige erhält, ist nicht bekannt. Es ist für den Holländer aber auch nicht so wichtig. «Um das Geld geht es mir nicht. Ich bin nur froh, dass ich einen Schlussstrich ziehen kann.»