Damit hätte vor der Saison nun wirklich niemand gerechnet. Bayer Leverkusen führt die Bundesliga vor dem 34. und letzten Spieltag mit drei Punkten Vorsprung auf Bayern München an. 14 Spiele in Folge hat das Team von Trainer Christoph Daum – gespickt mit Stars wie Jens Nowotny, Emerson, Ulf Kirsten, Zé Roberto und Michael Ballack – nicht mehr verloren und regelmässig begeisternden Offensiv-Fussball gezeigt.
Ein Punkt beim Aufsteiger aus Unterhaching, das den Ligaerhalt bereits gesichert hat, würde zum ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte also reichen – egal wie die Bayern zuhause gegen Werder Bremen spielen.
Die Leverkusener geben sich vor dem Schicksalsspiel betont gelassen. «Letztes Spiel Unterhaching, die letzte Hürde und die nehmen wir auch noch. Samstag, 17.15 Uhr, sind wir Meister. Basta!», sagt Daum, ohne den geringsten Zweifel darauf ankommen zu lassen, und legt gleich nach: «Wir sind auf Sieg programmiert, da hält uns keiner mehr auf.»
Doch die ersten Probleme stellen sich schnell ein. Im Kurz-Trainingslager vor dem entscheidenden Spiel herrschen Zustände «wie in einem Taubenschlag» – weil alle glauben, den Meister des Jahres 2000 schon umschwirren zu dürfen. Den Bayer-Verantwortlichen ist's egal, man gibt sich nahbar. Der Retortenklub aus dem Rheinland freut sich sichtlich über das grosse Interesse. Und an einen Stolperer gegen Unterhaching, daran glaubt wirklich keiner mehr.
Die Bayern starten unterdessen ihren Psychokrieg. Weissbier «bis zum Abwinken», Bratwürste aus Uli Hoeness' Wurstfabrik und Brez'n von Trainer Ottmar Hitzfeld höchstpersönlich verspricht der Rekordmeister der SpVgg Unterhaching für die dringend benötigte Schützenhilfe.
Zur ausgesetzten Siegesprämie kommen immer wieder kleine Giftpfeile: «Wir werden sehen, ob Leverkusen die Nerven bewahrt», sagt Hitzfeld. «Eigentlich kann man sich nicht vorstellen, dass sie in Unterhaching patzen. Aber im Fussball gibt es immer wieder Wunder und Sensationen». Stefan Effenberg legt noch einen drauf und posaunt: «Unterhaching ist für mich zurzeit die beste Mannschaft der Liga, die absolute Nummer 1.»
Und natürlich hat auch Uli Hoeness noch etwas in Richtung Intimfeind Daum zu sagen: «Er hat die Hosen voll. Die Nerven verliert man nur in Extremsituationen und Leverkusen hat eine Extremsituation. Sie haben mehr zu verlieren als wir.» Daum ärgert sich: «Ich finde es überheblich, dass die Bayern nur von Unterhaching reden und nicht von Bremen.»
Dann, am Samstagnachmittag um 15.30 Uhr, beginnt endlich der grosse Showdown: Die Bayern machen gegen Werder Bremen schon früh Nägel mit Köpfen. Carsten Jancker mit einem Doppelpack und Paulo Sergio mit einem herrlichen Hackentrick sorgen bis zur 16. Minute für eine komfortable 3:0-Führung. Trotz des Anschlusstreffers von Marco Bode kurz vor der Pause ist klar: Die Bayern lassen hier nichts anbrennen.
17,5 Kilometer entfernt im Hachinger Sportpark verläuft die Partie komplett anders. Leverkusen beginnt äusserst nervös, die Souveränität der letzten Spiele ist wie weggeblasen. Und nach 21 Minuten tritt dann das ein, was niemand erwartet hätte: Unterhachings Danny Schwarz flankt in den Bayer-Strafraum, Michael Ballack will mit dem linken Fuss klären – aber der Ball fliegt an Keeper Adam Matysek vorbei ins eigene Tor. Ballack sinkt zu Boden, hält die Hände vors Gesicht.
Den Bayer-Spielern ist der Schock ins Gesicht geschrieben. Es ist der Anfang vom Ende. Das Eigentor lähmt die Mannen von Christoph Daum, die in der Folge höchstens noch bei Standards gefährlich werden. «Ihr werdet nie deutscher Meister», singt der Hachinger Anhang, während Bayer die Zeit davonrennt.
Nach 72 Minuten versetzt der Underdog den Leverkusenern dann den endgültigen K.o.-Schlag. Markus Oberleitner trifft zum 2:0 und stürzt Bayer mal wieder ins Tal der Tränen. Zum dritten Mal nach 1997 und 1999 ist Bayer wieder nur «Vizekusen» – ein Begriff, der den Klub bis heute verfolgt, ist geboren.
Wie ein Häufchen Elend sitzt Ballack nach dem Schlusspfiff auf der Auswechselbank und weint hemmungslos. «So etwas zerreisst einem die Seele», sagt er noch, bevor er mit feuchten Augen in der Garderobe verschwindet.
Tränen ohne Ende – wohin das Auge reicht: Christoph Daum muss seinen Sohn trösten, Geschäftsführer Rainer Calmund den völlig aufgelösten Ulf Kirsten. «Wenn man im letzten Spiel nach einer so grossartigen Saison noch abgefangen wird, dann geht das schon unter die Haut», versucht «Calli» zu erklären. «Wir sind alle unglaublich enttäuscht.»
Völlig konsterniert werden die Leverkusener Spieler vor die Mikrofone gezerrt. «Mir fallen keine Worte ein, der Schock sitzt sehr, sehr tief», sagt Stefan Beinlich, während im Hintergrund die angereisten Bayern-Fans das Feld stürmen und die Hachinger Spieler feiern. Unterdessen nimmt Carsten Ramelow Michael Ballack in Schutz: «Er denkt vielleicht, das ist seine Schuld, was aber absoluter Schwachsinn ist. Wir haben das alle zusammen vergeigt.»
Und was sagt Trainer Daum? Als einziger bewahrt er die Fassung und gibt sich bald wieder kämpferisch: «In der Kabine ist eine Stimmung wie auf dem Zentralfriedhof von Chicago», beschreibt er den Zustand seiner Mannschaft. «Du kannst hinfallen, aber du musst wieder aufstehen. Und wir stehen wieder auf.»
17,5 Kilometer nordwestlich stemmt Captain Stefan Effenberg unterdessen die Kopie der Meisterschale – das Original ist noch in Unterhaching – in die Höhe. Weissbier wird getrunken und über Köpfe geleert, die Meister-T-Shirts werden ausgepackt. Während OIiver Kahn die 16. Meisterschaft der Bayern zu «meinem schönsten Titel» ausruft, denkt Uli Hoeness an Erzfeind Christoph Daum: «Ich habe Mitleid mit ihm», sagt er, was das Ganze für Daum wohl nur noch schlimmer macht.
Bis tief in die Nacht feiern die Bayern. Zu später Stunde stossen auch noch einige Unterhachinger zur Meisterparty und fordern das versprochene Weissbier und die Würste ein. Zu trinken gibt's für alle genug, was man den Bayern am nächsten Tag bei den Feierlichkeiten auf dem Rathausbalkon beim Marienplatz auch ansieht und anhört. Mir krächzender Stimme singt Sammy Kuffour seinen legendär gewordenen Kultspruch ins Mikrofon: «Rot-weisse Trikots! Wir wollen rot-weisse Trikots!»
Aber zurück zu Leverkusen: Für die Werkself ist der verlorene Titel im Jahr 2000 zwar der knappste der Geschichte, doch es wird noch schlimmer kommen. 2002 verliert Bayer innerhalb weniger Tage zunächst das Meisterrennen (gegen Dortmund), dann das DFB-Pokal-Finale (gegen Schalke) und schliesslich auch noch das Endspiel der Champions League (gegen Real Madrid). Vizekusen at it's best!