Es ist eine Etappe fürs Geschichtsbuch, welche die Fahrer der Tour de France an diesem 20. Juli 2006 von Saint-Jean-de-Maurienne nach Morzine führt. Denn was der Amerikaner Floyd Landis zeigt, ist nicht von dieser Welt. Was sich kurze Zeit später auch exakt so bestätigen wird …
Phonak-Chef Andy Rihs hat einen grossen Traum und den will er sich endlich erfüllen: Einer seiner Equipe soll die Tour de France gewinnen, das wichtigste Velorennen der Welt. Floyd Landis ist dafür bestimmt, der langjährige Helfer von Lance Armstrong.
Tatsächlich holt sich Landis in der 11. Etappe das Maillot Jaune. Er verliert es zwei Tage später zwar, holt es sich auf der Alpe d'Huez aber zurück – und bricht nochmals einen Tag darauf ein. Landis verliert zehn Minuten. Der Gesamtsieg ist weg.
Der Gesamtsieg ist weg? Denken vielleicht alle, nur einer nicht: Eddy Merckx. Der erfolgreichste Velorennfahrer der Geschichte, dessen Sohn Axel ein Teamkollege von Landis ist, ruft am Abend bei Phonak-Manager John Lelangue an. Er empfiehlt ihm, einen Angriff «à l'ancienne» zu versuchen – eine Attacke, wie man sie früher gemacht hat, aber wie es sie im modernen Radsport nicht mehr gibt.
Landis, der Sohn von strenggläubigen Mennoniten, lässt sich den Plan durch den Kopf gehen, bei «zwei Bierchen gegen den Frust», wie er später erklären wird. Der Plan steht: Er will mit einem Husarenritt noch einmal in den Kampf um den Gesamtsieg eingreifen.
75 Kilometer sind absolviert. Eine Spitzengruppe mit 15 Fahrern liegt weit, rund elf Minuten, vor dem Feld. Da gibt Landis seinen Kollegen das Zeichen zum Angriff. Das Phonak-Team setzt sich an die Spitze des Feldes, schlägt ein wahnwitziges Tempo an. Irgendwann ist Landis allein und er pedalt einfach stur weiter mit einer Geschwindigkeit, die seine Gegner grübeln lässt. Irgendwann ist er auf und davon.
Ein Bild von Landis wird diese Soloflucht prägen: Wie er pausenlos mit einem Bidon hantiert. Insgesamt 20 Wasserflaschen trinkt er, zählen die Reporter, rund 50 Bidons leert er über Kopf und Nacken aus, um sich zu kühlen. Im Begleitwagen müssen sie an diesem Tag ebenfalls über sich hinauswachsen.
Bis ins Ziel fehlen noch über 120 Kilometer. Kann Landis dieses Tempo wirklich so lange durchhalten? Schliesslich ist es alles andere als flach, es geht über die Alpenpässe Col des Saisies, Col d'Aravis, Col de la Colombière und Col de Joux Plane. Wie ein Besessener tritt Landis in die Pedale. Bald hat er die Fluchtgruppe eingeholt, bald stehen gelassen.
50 Kilometer vor dem Ziel hat er mehr als neun Minuten Vorsprung auf die Erstklassierten der Gesamtwertung. Plötzlich ist ein Podestplatz, ja gar der Sieg in Paris wieder realistisch. Denn Landis kommt durch, er ist «mit seinem Himmelfahrtskommando der Hölle entkommen und dem Himmel näher gerückt», wie Reporter Martin Born im «Tages-Anzeiger» formuliert.
Im Gesamtklassement liegt Landis nur noch 30 Sekunden hinter Leader Oscar Pereiro zurück. Und weil noch ein 57 Kilometer langes Zeitfahren ansteht und Landis in dieser Disziplin als stärker gilt, rückt der Gesamtsieg in Griffnähe.
Zwei Tage nach dem epischen Etappensieg in Morzine kann Floyd Landis sich tatsächlich erneut ins Gelbe Trikot einkleiden lassen. Er wird im Zeitfahren Dritter, er nimmt Pereiro eineinhalb Minuten ab und er liegt vor der Triumphfahrt auf die Champs-Elysées 59 Sekunden vor dem Spanier. Andy Rihs hat seinen Gesamtsieger. Endlich!
Doch bei Phonak sind sie nach der Siegerfeier in Paris wahrscheinlich noch kaum wieder nüchtern, als die Bombe platzt: Floyd Landis gedopt! Auf der 17. Etappe nach Morzine! Bei seinem Höllenritt!
Natürlich streitet Landis zunächst alles ab und das Team gibt sich überrascht. Doch die B-Probe bestätigt die erhöhten Testosteron-Werte. Nach einem langen Rechtsstreit wird Landis der Tour-Sieg aberkannt. Erst Jahre später gesteht Floyd Landis, dass er die meiste Zeit seiner Karriere zu Dopingmitteln gegriffen hat.
Andy Rihs bezeichnet die Affäre später als «den traurigsten Moment, viel schlimmer als alles andere.» Er löst die Equipe Ende Saison auf, aber sein grosser Traum erfüllt sich doch noch. Als Hauptsponsor des BMC-Team feiert er 2011 den Tour-de-France-Sieg von Cadel Evans.
Ansonsten beschäftigt er sich sportlich hauptsächlich mit Rückschlägen: Rihs ist Geldgeber der Berner Young Boys, die trotz grossen Ambitionen oft knapp an einem Titel vorbei schrammen. Im April 2018 stirbt Rihs nach einer Leukämie-Erkrankung, kurz bevor YB seinen ersten Meistertitel nach 32 Jahren des Wartens erringen kann.
Made My Day!
Und irgendwie hat man da ja noch geglaubt (oder glauben wollen), dies hätte ohne Doping stattgefunden.
Also vom Spektakel her waren diese gedopten Nullerjahre wirklich ein Leckerbissen...