Roger Federer macht sich in Melbourne auf, Geschichte zu schreiben. 13 Grand-Slam-Titel hat er vor den Australian Open 2009 auf seinem Konto – gewinnt er zum vierten Mal in Down Under, würde er mit Rekordhalter Pete Sampras gleichziehen.
Natürlich dreht sich im Vorfeld des Turniers fast alles um die ominöse Zahl 14, doch Federer lässt sich nicht verrückt machen. «Es ist egal, ob ich hier, beim French Open, in Wimbledon oder beim US Open gewinne. Aber natürlich würde ich am liebsten hier in Australien mit Pete gleichziehen», erklärt der «Maestro».
Anders als im Vorjahr, als er nach drei Titeln in vier Jahren im Halbfinal überraschend am aufstrebenden Novak Djokovic scheiterte, ist Federer aber nicht mehr der haushohe Favorit. Rafael Nadal hatte ihn im epischen Wimbledon-Final 2008 in fünf Sätzen besiegt und wenig später nach 237 Wochen in Serie auch als Nummer 1 abgelöst. In der Vorbereitung verlor Federer ausserdem zweimal gegen den 21-jährigen Schotten Andy Murray.
Federer startet trotzdem stark ins Turnier. Ohne Satzverlust stürmt der Schweizer in den Achtelfinal, wo er gegen Tomas Berdych aber plötzlich mit 0:2 Sätzen hinten liegt. Doch der Schweizer befreit sich aus der misslichen Lage, dreht die Partie gegen den Tschechen noch und gibt dann auf dem Weg in den Final gegen Juan Martin del Potro und Andy Roddick keinen Satz mehr ab.
Die letzte Hürde auf dem Weg zu Sampras' Rekord ist die höchstmögliche: Im Final wartet mal wieder Rafael Nadal. Der Spanier hat sich in den vergangenen zwei Jahren zum absoluten Angstgegner des Schweizers entwickelt. Fünf Major-Finals hat er gegen seinen Erzrivalen schon verloren, im Head-to-Head liegt er 6:12 zurück. Doch obwohl er die letzten fünf Duelle allesamt verloren hat, gilt auf dem Hartplatz noch immer Federer als leichter Favorit. Dort steht's nämlich 3:2 für ihn.
Nadal wird im Halbfinal gegen seinen Landsmann Fernando Verdasco ausserdem in einen epischen Abnützungskampf verwickelt. 5:14 Stunden dauert es, bis die Weltnummer 1 mit 6:7, 6:4, 7:6, 6:7 und 6:4 als Sieger hervorgeht. Erst um 2.30 Uhr erscheint er zur Pressekonferenz und nervt sich, dass er einen Tag später antreten musste als Finalgegner Federer. Dieser ist dementsprechend locker drauf. «Ich habe mich gut erholt, bin bereit und habe mich zwei Tage lang an das Linkshänder-Spiel gewöhnen können. Ich freue mich auf ein tolles Spiel», sagt der «Maestro» am Tag vor dem grossen Finale.
Doch Federer beginnt das Endspiel nervös. Gleich sein erstes Aufschlagspiel muss er abgeben, er schafft dann aber gleich das Rebreak. Nadal holt sich den ersten Satz trotzdem mit 7:5 und legt im zweiten wieder früh mit einem Break vor. Federer kontert erneut, wird immer besser und schafft schliesslich mühelos den Satzausgleich.
Den dritten Durchgang gewinnt Nadal im Tiebreak, nachdem er zuvor insgesamt sechs Breakbälle des Schweizers abwehrt. Der vierte Durchgang verläuft fast umgekehrt: Der Schweizer vereitelt beim Stand von 3:3 fünf Breakchancen des Spaniers und holt sich den Satz mit 6:3.
Im entscheidenden Durchgang führt Nadal mit 2:1 und es scheint, als würde diese Partie noch ewig dauern. Federer gewinnt beim eigenen Aufschlag die ersten beiden Punkte und führt 3:0. Doch dann geschieht das Unerwartete und für Federer so Untypische: Er verschlägt hintereinander sieben Bälle und liegt schnell hoffnungslos 1:4 hinten.
Es ist 14 Minuten nach Mitternacht, als der letzte Vorhandschlag Federers nach 4:22 Stunden hinter die Grundlinie hinaussegelt. Fast gleichzeitig fällt Nadal auf der anderen Seite des Netzes auf den Rücken, die Arme ausgestreckt. 7:5, 3:6, 7:6, 3:6 und 6:2 lautet das Verdikt zu Gunsten des Spaniers. Bitter: Mit 174:173 hat Federer sogar mehr Punkte gewonnen. Enttäuscht stapft er ans Netz und gratuliert seinem Erzrivalen zum Sieg, doch sein schwerster Gang wird erst noch kommen.
Wie ein Häufchen Elend sitzt Federer zunächst auf seiner Bank. Als er für die Siegerehrung zum Mikrofon schreitet, atmet er noch einmal tief durch, doch er findet einfach keine Worte. So gerne hätte der Dominator der letzten Jahre den Siegerpokal von Pete Sampras entgegengenommen und dessen Rekord eingestellt. Nun steht ihm wieder dieser Rafael Nadal im Weg.
«Oh God, it’s killing me», stammelt Federer mit bebender Stimme, bevor ihn die Tränen übermannen. Das Publikum merkt: Hier braucht jemand ihre Unterstützung. Minutenlang brandet tosender Applaus durch die Rod-Laver-Arena.
Die Pokalübergabe mit Nadal wird vorgezogen, dann versucht es Federer zum zweiten Mal. «Rafa verdient es, er hat einmal mehr fantastisch gespielt», sagt er, dann geht wieder nichts. Nadal nimmt seinen Rivalen in den Arm und sagt: «Roger, tut mir leid für heute. Ich weiss ganz genau, wie du dich jetzt fühlst. Denk daran, dass du ein grosser Champion bist, einer der besten in der Geschichte. Du wirst die 14 von Sampras verbessern.» Nette Worte, die den untröstlichen Federer aber nicht trösten können.
An der Pressekonferenz hat sich Federer dann wieder etwas gefasst. «Im ersten Moment war ich einfach enttäuscht, schockiert, traurig, und das überkommt einen dann plötzlich», erklärt er sich. «Leider kann man dann nicht einfach in die Garderobe, es locker nehmen und kalt duschen. Man muss draussen bleiben und das ist das Schlimmste.»
Roger Federers Tränen lassen niemanden kalt. Die ganze Schweiz diskutiert am Tag danach, ob er nun ein «Gränni» ist oder seine Reaktion einfach nur menschlich. Es gibt Diskussionen am Stammtisch, Strassenumfragen, Experten-Interviews – fast jeder darf seinen Senf dazu geben.
Federer gibt die Antwort auf dem Platz. Viereinhalb Monate nach dem Melbourne-Drama gewinnt er dank einem Finalsieg gegen Robin Söderling, der im Achtelfinal völlig überraschend Seriensieger Nadal rauswirft, zum ersten Mal das French Open. Er komplettiert seinen Karriere-Slam und stellt die Marke von Sampras ein. Vier Wochen später triumphiert der «Maestro» auch in Wimbledon. Ab sofort ist er der alleinige Rekordhalter.
Exakt ein Jahr nach dem Drama gegen Nadal fliessen in der Rod-Laver-Arena von Melbourne dann schon wieder Tränen. Dieses Mal ist aber nicht Federer untröstlich, sondern sein Gegenüber Andy Murray. Auch seinen zweiten Major-Final verliert der Schotte gegen Federer, anders als der Schweizer bewahrt er in der Enttäuschung aber seinen Humor. In Anspielung aufs Vorjahr sagt Murray mit britischem Humor: «Ich kann weinen wie Roger, es ist nur eine Schande, dass ich nicht so spielen kann wie er.»
2017 revanchiert sich Federer für das Melbourne-Drama bei seinem ewigen Rivalen Rafael Nadal. Nach langer Verletzungspause schlägt der «Maestro» den Spanier im Final der Australian Open in fünf Sätzen, nachdem er im Entscheidungsdurchgang noch mit 1:3 zurückgelegen hat, und krönt damit sein Comeback direkt mit dem 18. Grand-Slam-Titel.
Bis heute sind zwei weitere Grand-Slam-Siege dazu gekommen, womit Federer bei 20 liegt. Den Major-Rekord ist der Schweizer aber mittlerweile wieder los, nach seinem Australian-Open-Triumph 2022 liegt Nadal bereits bei 21 Grand-Slam-Trophäen.