Skandal? Das Wort stammt aus dem spätlateinischen Scandalum und bedeutet Ärgernis. Doch eigentlich ist der grösste Skandal des Schweizer Eishockeys kein Ärgernis und kein Betrug. Sondern im Urteil der Geschichte ein Glücksfall. Es ist eine Geschichte, wie sie nur das Schweizer Eishockey schreiben kann. Im Mittelpunkt steht Peter Bossert, von 1976 bis 1986 Präsident des EHC Arosa, später auch beim EHC Kloten engagiert.
Sein Pech ist es, dass er 20 Jahre zu früh kommt. Dieser tüchtige, visionäre Manager sieht bereits Anfang der 1980er Jahre ganz klar, dass sich die Nationalliga A Richtung Profibetrieb entwickelt. Dass künftig wirtschaftliche Faktoren ebenso wichtig sein werden wie sportliche. Deshalb inszeniert er den freiwilligen Abstieg aus der NLA in der Manier der nordamerikanischen Profiligen: Er verkauft den Verein, der in Arosa oben keinerlei Marktchancen mehr hat, nach Bern. In eine Stadt, die mit dem SCB im Profihockey politisch, sportlich und wirtschaftlich eine Schlüsselrolle einnimmt. Aber nur noch in der zweithöchsten Liga vertreten ist.
Warum Bern? Warum nicht Zürich? Das ist der eigentliche Skandal beziehungsweise das eigentliche Ärgernis. Guido Tognoni, leidenschaftlicher ZSC-Fan, ist Anfang der 1980er Jahre Sportredaktor beim Zürcher «Tages-Anzeiger». Arosa ist NLA-Spitzenklub und hat 1982 seinen letzten Titel gefeiert. Doch der Bündner Guido Tognoni, mit den Verhältnissen in Arosa bestens vertraut, sagt in einer bemerkenswerten Analyse im «Tages-Anzeiger» schon 1983 (!) voraus, dass diesem Klub bereits mittelfristig aus wirtschaftlichen Gründen nur noch der freiwillige Abstieg bleibe.
Er ahnt gar nicht, wie richtig seine Analyse ist. Peter Bossert tobt und reagiert umgehend. Er lädt Jürg Casanova, den Eishockeychef der damals einflussreichen, heute nicht mehr existierenden Fachzeitung «Sport» zum Mittagessen ein. In der nächsten Nummer des «Sport» erscheint auf der Frontseite die «Gegengeschichte» zu Guido Tognonis düsterer Prophezeiung. Die Schlagzeile «Arosa baut ein neues Meisterteam».
Es ist ein weiteres Meisterstück von Peter Bossert. Er hat wie kein anderer Präsident seiner Zeit erkannt, wie wichtig die Medien sind. Er hat die Journalisten im Griff wie vor ihm und nach ihm nie mehr ein Präsident. Er instrumentalisiert die Medien. Wenn unbotmässig über Arosa geschrieben wird, schluckt er seinen Ärger hinunter und lädt er den unbotmässigen Chronisten zum Mittagessen ein. Gibt ihm das Gefühl von Wichtigkeit, nimmt ihn für sich ein und bringt seine Botschaft in den Zeitungen unter.
Ende 1985 weiss Peter Bossert, dass Arosa wirtschaftlich keine Chance mehr hat. Er hatte alles versucht und bereits 20 Jahre vor der Zeit das Konzept einer Aktiengesellschaft ausgearbeitet. Doch die Zeit ist noch nicht reif dafür. Heute sind alle Klubs der beiden höchsten Ligen Aktiengesellschaften.
Guido Tognoni hat inzwischen Karriere gemacht. Er ist Pressechef beim Weltfussballverband FIFA geworden und managte die sportliche Abteilung des ZSC als TK-Chef (so hiess damals der Sportchef).
Arosas Budget hat die Grenze von zwei Millionen überschritten. Der Klub wird pro Saison mehr als eine halbe Million verlieren. Das Dorf kann und will den Verein nicht finanzieren. Die Pläne einer AG lassen sich nicht realisieren. Wer will denn schon in ein Verlustgeschäft investieren? Es bleibt nur der freiwilligte Rückzug ins Amateurhockey, in die 1. Liga.
Doch wie inszenieren? Wenn Gerüchte über den geplanten freiwilligen Abstieg an die Öffentlichkeit gelangen, ist der Klub höchstwahrscheinlich ruiniert, die Sache bekommt eine Eigendynamik und lässt sich nicht mehr steuern. Wie nun Peter Bossert diesen freiwilligen sportlichen Alpabzug inszeniert, ist ein Meisterstück vor dem selbst Niccolo Machiavelli vor Neid erblasst wäre.
Der ZSC liegt in dieser Saison 1985/86 am Ende der NLA-Tabelle und steckt in akuter Abstiegsgefahr. Der Tabellenletzte wird nämlich Ende Saison direkt absteigen und durch den Sieger der Nationalliga B (heute Swiss League) ersetzt. In der NLB strebt der SC Bern mit allen Mitteln den Wiederaufstieg an.
Was passiert, wenn sich eine Mannschaft aus der NLA zurückzieht? Rückt dann automatisch der Zweite der NLB nach? Oder verbleibt der Letzte der NLA in der höchsten Spielklasse? Die Reglemente sind so angelegt, dass beide Varianten denkbar sind.
Unglücklicherweise hat Guido Tognoni seine so treffende Analyse, die er einst als Chronist im «Tages-Anzeiger» gemacht hat, inzwischen vergessen. Er ahnt nicht, was in Arosa geplant wird.
Peter Bossert kann nämlich nicht einfach so freiwillig absteigen. Er hat Mitte Januar allen Spielern erklärt, dass es weitergehen wird, und kündigt mit Kari Eloranta von Färjestad einen Topausländer für die kommende Saison an (der Finne wird später in Lugano verteidigen). Torhüter Dino Stecher und Verteidiger Roland Rüedi vom EHC Olten haben bereits in Arosa unterschrieben. Schon damals wurden Transfers lange vor der Zeit gemacht.
Mit Ausnahme von Reto Dekumbis stehen alle Spieler auch für die Saison 1986/87 unter Vertrag. Der Kontrakt von Trainer Timo Lahtinen läuft ebenfalls weiter. Steigt Arosa jetzt aus, müssen diese Verträge abgegolten werden, wenn es nicht gelingt, neue Arbeitgeber zu finden. Peter Bossert will ja mit einem schuldenfreien EHC Arosa in die 1. Liga absteigen.
Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass die Presse (Internet, Twitter gibt es noch nicht) von den geheimen Plänen erfährt. Einen hartnäckig recherchierenden Journalisten aus dem Emmental lädt Peter Bossert persönlich nach Arosa ein, Hotelübernachtung und Nachtessen inklusive. Der Vorsitzende geht in die Offensive, weiht den Chronisten in die Geheimpläne ein und verpflichtet ihn zu absolutem Stillschweigen.
Dieser Chronist wird später, wenn die ganze Abstiegsgeschichte offiziell wird, mit seiner Verlobten in Kalifornien in der Sonne liegen und kommt gar nicht in Versuchung, sein Insider-Wissen preiszugeben.
Am 13. Februar 1986 ist die Qualifikation zu Ende. Arosa hat sich auf Rang 7 nicht für die ersten Playoffs unserer Geschichte qualifiziert und beendet die Saison. Nur die ersten vier bestritten damals die Playoffs.
Der ZSC ist vom letzten Platz nicht mehr weggekommen und steigt ab (bereits 1989 wird der Wiederaufstieg gelingen). Am 4. März 1986 sind auch die Aufstiegs-Playoffs der NLB gespielt. Der SCB ist sensationell im Finale gegen den EHC Chur mit Renato Tosio im Tor gescheitert und steht vor dem Nichts. Eine weitere Saison in der NLB kann der SCB mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr verkraften.
Damit ist klar: Arosas Präsident muss mit den Bernern schnell eine Einigung finden. Dass der SCB für Arosa nachrutschen kann und nicht etwa der ZSC in der NLA verbleiben darf, wird heimlich abgesichert.
Die Nationalliga ist ein Männerzirkel, in dem Peter Bossert Meinungsführer ist. Zu diesem inneren Kreis der Macht ist Guido Tognoni nicht zugelassen. Der ZSC hat in dieser Zeit noch keine politische Bedeutung. Präsidiert wird die Nationalliga von Samuel Burkhardt, einem Berner Burger, SCB-Ehrenmitglied und als Generalsekretär des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements ein hochkarätiger Jurist und Krisenmanager, der sich später auch in der Affäre um den Rücktritt seiner Chefin Elisabeth Kopp, der ersten Bundesrätin, bewähren wird. Auch er gibt grünes Licht. Verbandspräsident René Fasel wird hingegen wohlweislich nicht eingeweiht. Weil befürchtet wird, er könnte die Sache ausplaudern.
Am 11. März sitzt Peter Bossert um Mitternacht mit Daniel Wehrle, dem Eishockey-Chef des «Blick» zusammen, um die mediale Inszenierung zu besprechen. Sie einigen sich darauf, dass der ideale Zeitpunkt für den Gang an die Öffentlichkeit der 13. März sei. Länger darf nicht mehr zugewartet werden, weil dann diese Schockmeldung des freiwilligen Abstieges die Vorbereitung der Nationalmannschaft auf die B-Weltmeisterschaft empfindlich stören könnte. Ivan Sajnoha vom «Sport» wird ebenfalls eingeweiht.
Aber das Wichtigste, nämlich dass der Deal mit dem SCB gemacht ist, dass Arosa seinen Platz in der höchsten Liga den Bernern verkauft hat, verschweigt Peter Bossert auch Daniel Wehrle und Ivan Sajnoha.
Die Meldung des freiwilligen Abstiegs der Aroser trifft die Eishockey-Schweiz wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und sofort setzt die Diskussion ein, wer nun Arosa beerben soll. Guido Tognoni reklamiert den frei gewordenen Platz in der NLA natürlich für seinen Zürcher SC. In Bern hingegen fordern die Medien ein Nachrücken des SCB am grünen Tisch.
Perfekt inszeniert Peter Bossert das Schauspiel. Der völlig ahnungslose Verbandspräsident René Fasel, der später als Präsident des internationalen Verbands zu einem der mächtigsten Sportfunktionäre der Welt aufsteigen wird, ordnet eine Sondersitzung zum Thema an. Er weist seine Juristen an, die Reglemente zu befragen und ahnt nicht, dass Walter Blumenthal, das juristische Gewissen des Verbandes, von Peter Bossert längst eingeseift und in die Pläne eingeweiht worden ist.
Die Verbandsfunktionäre machen ernsthafte Gesichter, tun so, als müssten sie erst nachschauen, was die Reglemente vorschreiben und verkünden schliesslich nach einer Klausursitzung mit bedeutungsschwerer Miene, was hinter René Fasels Rücken längst arrangiert worden ist: der SCB darf nachrutschen, der ZSC muss absteigen.
Noch Jahre später wird René Fasel die Zornesröte ins Gesicht steigen, wenn er auf diesen Skandal, dieses Ärgernis, diesen Betrug angesprochen wird, und bestätigen: «Ich bin hinters Licht geführt, ja, ich bin betrogen worden.»
Peter Bossert hat auf der ganzen Linie triumphiert. Die weiterlaufenden Verträge, die nicht Aufsteiger Chur übernimmt, werden auf den SCB übertragen. Chur kauft bei Arosa mit Lolo Schmid, Pietro Cunti und Reto Dekumbis gleich einen ganzen Nationalsturm ein. Dino Stecher und Roland Rüedi bleiben in Gottes Namen halt eine weitere Saison bei Olten. Bern postet Nationalverteidiger Heini Staub und Trainer Timo Lahtinen. Ob die Berner auch noch Geld ins Bündnerland überwiesen haben, bleibt für immer ein gut gehütetes Geheimnis. Jedenfalls steigt der EHC Arosa, der ein Saisondefizit von gut und gerne einer halben Million erwartet hatte, auf wundersame Weise finanziell saniert und schuldenfrei in die 1. Liga ab.
Der SCB ist im Frühjahr 1986 endlich wieder oben – bis heute ist er das geblieben und mittlerweile die grösste Eishockey-Firma im Land geworden.
Vergeblich versuchen ZSC-Vorstandsmitglied Luzi Stamm (er wird später als Nationalrat landesweiten Bekanntheitsgrad erlangen) und Guido Tognoni erst bei den Verbands-Rekursinstanzen und dann vor einem ordentlichen Gericht zu beweisen, dass der Verband rechtswidrig gehandelt hat. Maliziös belehrt etwa die Rekurskammer die ZSC-Vertreter, dass es auch rechtens gewesen wäre, wenn der ZSC an Stelle von Arosa oben geblieben wäre. Die Reglemente hätten das ebenso gut erlaubt wie das Nachrücken der Berner. Natürlich waren auch die unbestechlichen Mitglieder der Rekurskammer längst von Peter Bossert auf Kurs gebracht worden.
Bereits ein paar Jahre später ist klar: Hätte Präsident Eduard Tschanz seinen SCB am gründen Tisch nicht in die NLA zurückgebracht, wäre der schon damals grösste Sportverein der Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit von der Eishockey-Landkarte verschwunden. Die Kassen waren leer, die letzten finanziellen Mittel investierte der kluge Eduard Tschanz in den Deal mit Peter Bossert und nicht in unsichere Transfergeschäfte. 1989 ist der SCB, jetzt unter Kultpräsident Fred Bommes und Trainer Bill Gilligan, schon wieder Meister.
Der ZSC findet in Zürich, in der Wirtschaftshauptstadt der Schweiz, die Investoren, um aus eigener Kraft ganz nach oben zu kommen. Im Frühjahr 1997, als der ZSC sportlich zwar erstklassig, aber finanziell am Ende ist, kommt es zur Gründung der ZSC Lions mit dem Investoren Walter Frey. 2000 sind auch die Zürcher endlich wieder Meister.
Der EHC Arosa steigt später sportlich vorübergehend in die 2. Liga ab und spielt heute in der MySports League. Das langfristige Ziel ist ein Aufstieg in die Swiss League.
Der ganze Fall Arosa, so das Urteil der Geschichte, ist zwar ein Skandal, ein Ärgernis, ja ein Betrug – aber letztlich war damit allem und allen und auch dem Wohle unseres Eishockey aufs Allerbeste gedient.
Na ja das kann wohl keiner sagen. Klar als Berner stimmt diese Meinung sicher aber für den Rest der Schweiz? Ist ja nicht so, dass der SCB weiss ich was für das Schweizer Eishockey gemacht hätte oder macht. Nach dem Arosa Skandal jetzt der Reform Skandal. Es wäre wohl wahrer, wenn man sagen würde, dass der SCB die CH-Hockeyszene grundsätzlich kaputt macht und ihr schadet.