Um die Geschichte unseres Ausflugs ans Radquer nach Estavayer-le-Lac zu erzählen, muss man mit dem Vorabend beginnen, denn dieser hatte fatale Auswirkungen auf das körperliche Befinden des Folgetags.
Ausgerechnet am Abend vor der grossen Radquer-Challenge wurde in der Redaktion nach getaner Arbeit wieder einmal ein wohlverdientes Feierabendbier getrunken. Und natürlich wurde der Vorsatz «Ein Bier und dann zieh ich Leine» – genauso wieder einmal – nicht eingehalten.
Die Feierabend-Gespräche werden jedes Mal umso spannender, desto dringender man nach Hause müsste. Da besteht ein linearer Zusammenhang. Kurz vor Mitternacht ist es aber dennoch soweit: Ich wanke ins Bett und falle sofort in einen tiefen, aber kurzen Schlaf.
Nur gerade zwölf Stunden später stehen mein Teamkollege und ich am Neuenburgersee am Start zum «Red Bull Velodux», einem Radquer-Rennen mitten durch die mittelalterliche Stadt Estavayer-le-Lac. In der Zwischenzeit standen viel zu wenige Stunden Schlaf, eine zweistündige Autofahrt quer durch die Schweiz, drei Becher Kaffee, eine Dose Red Bull, eine grosse Portion Pasta, eine Streckenbesichtigung und erste Erfahrungen mit unseren französisch sprechenden Landsleuten («C'est la première fois vous faites un cyclocross?») auf dem Programm.
Ja, man sieht es uns inmitten all der Cracks an: Wir sind blutige Radquer-Anfänger. Erstmal müssen wir uns an die Schaltung des Quer-Fahrrads gewöhnen. Dort schaltet man nämlich mit der Bremse. Für Rennradfahrer nichts Ungewöhnliches, für meinen Kumpel hingegen, der sonst nur an der Zürcher Seepromenade sein City-Bike spazieren fährt, eine sinnlose technische Schikane.
Doch das ist nicht das einzige Ausrüstungsproblem. Für unsere beiden Köpfe haben wir nämlich lediglich einen Helm mitgenommen. Nach erfolglosem «Avez-vous-un-deuxieme-casque-pour-nous?» kommen wir zu guter Letzt auf die brillante Idee, den Helm in der Wechselzone jeweils zu übergeben.
Absolviert wird die 2,8 Kilometer lange Strecke nämlich einzeln. In der Wechselzone wird dann jeweils abgeklatscht und das Teammitglied auf den Rundkurs geschickt. Da sich mein Teamkollege bereit erklärt, die erste Runde zu übernehmen und sich ins Startgetümmel zu werfen, kann ich in der Sonne noch etwas Kraft tanken und die wunderbare Aussicht auf das über 600 Jahre alte Wahrzeichen von Estavayer-le-Lac geniessen: Das «Château Chenaux».
Nach wenigen Minuten ist es aber vorbei mit der Ruhe: Im Affen-Karacho donnern die ersten schlammverspritzten Radler in die Wechselzone. Bis mein Kumpel auftaucht, dauert es zwar ein bisschen länger. Doch er hat seine erste Runde als Radquer-Fahrer überhaupt tatsächlich überlebt. Wenn auch nur knapp, wie sich sofort herausstellen wird: «Ich bin huere id Wand inegfahre. Det bide Steilwandkurve.»
Nach einer mehr oder weniger souveränen Helmübergabe stürze ich mich gut gewarnt ins Rennen. «Steilwandkurve Achtung, nicht in die Wand donnern, Steilwandkurve Achtung, nicht in die Wand donnern», so mein Mantra. Doch zunächst steht noch keine Steilwandkurve auf dem Menü. Erstmal gibt's eine grosse Portion Schlamm. Mit viel Krafteinsatz powere, oder besser: schleppe, ich mich durch den Morast und sehe nach wenigen Metern bereits Sterne und ein unüberwindbares Holzhindernis.
Kurzerhand beschliesst mein Unterbewusstsein – das offenbar immer noch in Feierabendbier-Nostalgie schwelgt – die hölzernen Rampen und Bodenwellen auszulassen und eine Abkürzung zu nehmen. Der Sauerstoff, der sich nach einer temporären Absenz wieder in meinem Gehirn zurückmeldet und die aufmerksamen Streckenposten bieten meinem lethargischen Unterbewusstsein aber ziemlich schnell Paroli: «Aha, ich muss über die Hindernisse, nicht um die Hindernisse fahren!»
Nach viel Dreck, zwei Wasserlachen, etwas Rasen und mittelmässig bravourös gemeisterten Holzhindernissen finde ich mich ein wenig (oder viel?) später am Fusse einer alten Schlosstreppe wieder. Das Rad muss geschultert und die Höhenmeter müssen zu Fuss absolviert werden. Obschon mein Laufschritt nach wenigen Stufen einem pragmatischen «Step-by-Step» weicht – die Kohlensäure vom gestrigen «Quöllfrisch» Nummer 3 meldet sich –, höre ich ein Kind im Publikum rufen: «C'est le premier!»
Wie bitte? Ich der Erste? Das kann selbst ich nicht glauben, obschon ich Zweckoptimismus an diesem Tag doch eigentlich zu meiner Religion ausgerufen habe. In Tat und Wahrheit ist das Kind nur verwirrt, weil die Schnellsten schon so lange vorbei sind, dass sie schon wieder hinter mir liegen und bald zur Überrundung ansetzen können.
Oben angekommen, wird erstmal Luft geholt und mächtig Selbstkritik geübt: «Warum nicht früher ins Bett, du Idiot?» Danach geht's über Pflasterstein durchs Dorf, hoch zum Châteu Chenaux. Dort geht's mitten durch die Wachtürme, über eine Brücke hinein in den Schlossgarten. Ich fühle mich wie ein Ritter. Eher wie ein Ritter der Marke «Don Quijote» zwar, doch das Ganze beginnt Spass zu machen.
Wenig später finde ich mich vor der ominösen Steilkurve wieder: «Nicht in die Wand donnern!», sogar mein Unterbewusstsein funktioniert wieder. Wie ein Profi flitze ich darüber hinweg und verspüre fast schon ein bisschen Schadenfreude gegenüber meinem Teamkollegen: «Die Steilwandkurve isch ja vooll iiisi gsi!»
Die Freude ist aber nur von kurzer Dauer. Wenige Augenblicke danach stehe ich oben an einer gigantischen Treppe, die hinuntergerasselt werden soll. Irgendetwas mit 160 Stufen habe ich im Vorfeld mal irgendwo gelesen. Na dann: Hals und Beinbruch!
Im Nu avanciert mein Drahtesel zu einem tollwütigen Presslufthammer, den nur noch Fabian Cancellara oder vielleicht Chuck Norris unter Kontrolle halten könnten. Alles wird durchgeschüttelt. Der Magen macht vier Saltos, der Bizeps schreit nach Luft, mein Herz rast und die «Aprés-Feierabendbier-Dönerbox» will raus.
Irgendwie komme ich aber unten an. Unbeschadet. Don Quijote war gestern, jetzt bin ich Richard Löwenherz, König Arthur oder eben Chuck Norris. Beflügelt von diesem Husarenritt ackere ich mich auch noch durch den Rest der Runde: Helmübergabe, endlich ausruhen.
Die Glückshormone, welche bei der Ankunft kurz in meine Blutbahnen gepumpt wurden, verfliegen schnell. Erneut machen sich die Strapazen der letzten Nacht bemerkbar. Der Kopf schmerzt, die Lunge sticht, der Husten quält sich die Luftröhre hoch. So muss sich damals also Tele-Züri-Legende Yilmaz Z. gefühlt haben: «Alles tuet's mer weh!»
Neben mir gibt ein ebenfalls durchgeschüttelter Radquer-Crack ein Interview mit dem Publikumsanimator. «Und wie ist es?», fragt der Moderator. Mein Leidensgenosse antwortet mit der letzten Puste, die er noch hat kurz, aber überaus treffend: «Sauasträngend!»
Weil dieser Ausdruck etwas gar Schweizerdeutsch ist, fühlt sich der Moderator zu einer «traduction assez libre» veranlasst. «‹Sauasträngend› veut dire ‹cochonnement dur›», so der Talkmaster. Ich kann dem Gesagten nur nickend zustimmen. «Cochonnement dur, Ccochonnement dur – ja das ist es!»
Nichtsdestotrotz absolvieren mein Kollege und ich den ganzen Parcours noch jeweils zwei weitere Male. Am Ende sind wir dreckig, kaputt, glücklich und noch vieles mehr. Das Red Bull Velodux war halt doch der Hammer – lausige Vorbereitung hin oder her.
Abgeschlossen wird die Geschichte damit, womit sie begonnen hat: Mit einem wohlverdienten Feierabendbier.