Der Nationaltrainer brachte es auf den Punkt: «Die Deutschen haben heute wie Brasilianer gespielt», sagte Luiz Felipe Scolari nach der epochalen 1:7-Pleite der Seleçao im WM-Halbfinal in Belo Horizonte. Die Partie war in mancher Hinsicht eine Offenbarung: Die Deutschen tanzten den Gegner aus, während die Brasilianer, technisch unbedarft und taktisch überfordert, über den Rasen holperten und stolperten. Sie spielten Rumpelfussball, wie einst die Deutschen.
Verkehrte Fussballwelt.
Man erinnert sich an die verrückte WM 1982 in Spanien. Brasilien war mit einer Truppe von Traumtänzern angereist: Zico, Sócrates, Falcão, Cerezo, Junior. Sie zeigten Fussball aus einer anderen Welt, ehe sie in der Zwischenrunde vom nachmaligen Weltmeister Italien bei brütender Hitze ausgekontert wurden.
Deutschland dagegen spielte Fussball des Grauens und krampfte sich damit bis in den Final. Auf dem Weg dorthin lagen der schändliche «Nichtangriffspakt» mit Österreich, der die wackeren Algerier aus dem Turnier warf, und der denkwürdige Halbfinal gegen Frankreich mit dem Brutalo-Foul von Goalie Toni Schumacher an Patrick Battiston.
Damals lernte die Fussballwelt, Deutschland zu hassen. Heute muss man die Deutschen nicht lieben, aber bewundern. Und die Brasilianer kann man nicht hassen, nur bemitleiden.
Was schlimm genug ist für den fünffachen Weltmeister, der einst mit seinem Jogo Bonito entzückte, dem schönen Spiel. Geprägt wurde dieser Ausdruck an der WM 1958 in Schweden, als Brasilien mit dem genialen Strategen Didi, dem irren Dribbler Garrincha und dem Wunderkind Pelé erstmals den Titel holte. Zur Vollendung gebracht wurde dieser Gourmet-Fussball durch die Weltmeister-Mannschaft von 1970, angeführt von Pelé.
Bis heute wird in Zusammenhang mit Brasilien immer wieder das Jogo Bonito beschworen. Das ist entweder Ausdruck von Verklärung oder Ignoranz. Oder beidem. Denn das «schöne Spiel» wurde 1986 in Mexiko beerdigt, als die praktisch gleiche Mannschaft wie vier Jahre zuvor den Viertelfinal gegen Frankreich im Penaltyschiessen verloren hatte.
Danach wurde auch in Brasilien das Resultat zum Mass aller Dinge. Die Spielweise war zweitrangig. Die neue Strategie hatte Erfolg, 1994 und 2002 holte die Seleçao zwei weitere Weltmeistertitel. Damals aber hatte sie immer noch technisch brillante Spieler in ihren Reihen: Romario, Bebeto, Ronaldo, Ronaldinho. Heute hat sie nur Neymar.
Sein Ausfall aber war nicht schuld an der Demütigung gegen Deutschland. Sie offenbarte schonungslos die Versäumnisse einer grossen Fussballnation, die sich in der eigenen Selbstzufriedenheit sonnte. Und sich vom Erfolg am letztjährigen Confed Cup blenden liess, der eben doch nur ein besseres Plauschturnier ist. Bestes Beispiel ist Stürmer Fred: Am Confed Cup war er Torschützenkönig, an der Weltmeisterschaft ein Irrläufer.
Noch aber ist Brasilien nicht verloren. Als Vorbild dient ausgerechnet Deutschland, dessen Fussball nach der Europameisterschaft 2000 in Belgien und Holland ebenfalls am Boden lag. Die alten «deutschen Tugenden» waren nicht mehr gefragt. Doch die Erlösung folgte bald, in Form einer neuen Generation, die Fussball nicht nur schuften, sondern auch spielen kann. Am Sonntag kann sie im WM-Final die Früchte ihres neuen «brasilianischen» Stils ernten.
Brasilien muss daraus lernen, dann steht es in absehbarer Zeit wieder oben. Ein wenig Jogo Bonito braucht es eben doch, sonst ist Brasil nicht Brasil.