Ich hätte ja eine Stange Geld auf die Belgier gesetzt. Bis gestern, jedenfalls. Aber dann spielte mit Deutschland ein möglicher Achtelfinalgegner und überzeugte just mit jenen Qualitäten, die den roten Teufeln zum Verhängnis werden könnten: Teamgeist, mannschaftliche Geschlossenheit, Abgebrühtheit und, ganz wichtig – Erfahrung. Warum die Belgier den überbordenden Erwartungen nicht gerecht werden können: Eine Auflistung.
Acht Siege, zwei Untentschieden, keine Niederlage: Nach Deutschland und Holland spielte Belgien die drittbeste Qualifikation überhaupt und verbuchte dazu auch noch zwei Testsiege bei den WM-Generalproben gegen Luxemburg (5:1) und Tunesien (1:0). Das lief wie geschmiert – zu geschmiert, und überhöht die Erwartungen ins Grenzenlose. Serbien, Kroatien und Schottland wurden in der Quali allesamt in den Senkel gestellt. Das verpflichtet. Daran wird man Belgien messen. Und daran werden sie zerbrechen.
Elf Belgier proben in der Gruppe H den Durchmarsch. Das ist, was alle Welt angesichts der Gegner Russland, Algerien und Südkorea erwartet. Doch bei der WM-Generalprobe verliess Sturmtank Romelu Lukaku das Feld humpelnd. Das hatte Symbolkraft und war metaphorisch zu verstehen für den belgischen WM-Express, der ausgerechnet bei besagter Generalprobe ins Stottern geriet. Was, wenn gegen Algerien kein diskussionsloser Sieg herausschaut? Wie steht es dann noch um die Loyalität innerhalb des Teams? Die Nagelprobe fürs Nervenkostüm wird kommen – und dann könnte es bereits zu spät sein.
Der Trainer der roten Teufel, Marc Wilmots, weiss lauter exzellente Einzelspieler in seinem Kader, viele davon noch jung. Hochbezahlte Stars, die in den letzten Jahren aufs hartumkämpfte Parkett des Weltfussballs gespült wurden und im Sinne ihres modernen Fussballerdaseins auf Individualität getrimmt worden sind. Harzt es gegen Algerien, sind erste Reibereien vorprogrammiert. Gerade in einem Team, wo der eine (Courtois) dem anderen (De Bruyne) die bessere Hälfte für ein Schäferstündchen ausspannt – und so eine monatelange Funkstille zwischen den beiden Gockeln auslöst.
Nach Ghana und Nigeria stellt Belgien die drittjüngste Mannschaft des Turniers, die grossen Namen wie Witsel (25), Lukaku (21), De Bruyne (22), Hazard (23) sind dem Welpen-Alter erst unlängst entwachsen. Im Gegensatz zu Team-Methusalem Daniel van Buyten waren sie noch nie bei einer WM-Endrunde dabei. Eden Hazard etwa, war bei der letzten WM-Teilnahme Belgiens 2002 zarte elf Jahre alt. Wehe, wenn der jugendlich-frische Haudrauf-Kick einmal aus dem Takt gerät. Wer soll dann für Ruhe sorgen? Trainer Marc Wilmots jedenfalls nicht. Der amtete vor einigen Jahren neben seinem Trainerjob noch als Politiker. Und wem ist in Krisensituationen am wenigsten zu trauen? Eben.
Geht man trotzdem davon aus, dass Belgien die Noname-Teams aus Russland, Algerien und Südkorea aus dem Weg räumt, kommt das grosse Erwachen im Achtel- oder spätestens im Viertelfinal. Als Gruppenzweiter träfe man mutmasslich auf Deutschland, als Gruppenerster wohl immerhin auf Portugal oder die USA. Gehupft wie gesprungen: Übersteht Belgien die Gruppenphase problemlos, wird danach der erste Gegner in der K.o.-Phase von ganz anderem Format sein. Wird's bereits in der Gruppenphase heikel, akzentuiert sich dieses Gefälle noch zusätzlich. Belgien hat einiges zu gewinnen – aber nach all der wohlwollenden, ja gar überschwänglich euphorisierten Berichterstattung im Vorfeld der WM noch viel mehr zu verlieren.