Ich weiss es noch genau: Vor Jahren besuchte ich mal mit dem Auto Altdorf, fuhr dann – alles dem See entlang – hoch nach Seelisberg, lief runter zum Rütli, schnaufte wieder den steilen Weg hoch und fuhr dann weiter hinter dem Bürgenstock durch bis nach Luzern. Es war wunderschön. Und ich erinnere mich an die Strasse hoch nach Seelisberg. Sie war steil, im Wald, aber schön. Deshalb habe ich mich auch bei der Tour dur d'Schwiiz auf diesen Teil gefreut und als ich die Veloroute auf GoogleMaps von Bauen nach Seelisdorf sah, kam mir der Ausflug damals wieder genau in den Sinn.
Jetzt sitze ich mit Hugo, Remy und Nina in Riemenstalden im Restaurant. Ein paar Häuser, eine Kirche und die erwähnte Gaststätte bilden die abgelegene Gemeinde gut 500 Höhenmeter über Sisikon am Vierwaldstättersee. Wir haben eine lange Etappe fast geschafft und blicken schon mal auf den nächsten Tag. Als ich vom Weg von Bauen nach Seelisberg erzähle, sagt Hugo: «Da gibt es keine Strasse. Die hört dort auf.» Ich schüttle ungläubig den Kopf und erzähle von meinem Ausflug vor Jahren. Auf seinen Einwand, ich sei durchs Autobahntunnel und dann von Beckenried von der anderen Seite her hochgefahren, kann ich nur lachen. Als ob ich nicht mehr wüsste, was ich damals machte.
Wir kramen die Smartphones hervor. Ich hab kein Netz, aber Hugos Gerät zeigt tatsächlich: Da hat es keine Strasse. Ich frage die Serviertochter, ob sie sich dort auskenne. «Ja, ich habe in Bauen gearbeitet. Die Velofahrer mussten kurz danach die Drahtesel schultern und die Treppen hoch. Nein, mit dem Auto kannst du da ganz sicher nicht hinauf.» Ich möchte ihr ja glauben, aber ich kann nicht. Denn wie gesagt: Ich fuhr das mal mit dem Auto.
Später frage ich den Gastgeber in unserem Hotel in Sisikon: «Nein, da gibt es keine Strasse, nur einen steilen Wanderweg mit Treppen», sagt er. Ich fasse es nicht und suche nach Erfahrungsberichten im Internet. Ich finde Folgendes: «Ab Bauen: Denn jetzt heisst es 300 Höhenmeter hoch tragen resp. schieben und danach nochmal 100 Höhenmeter hochradeln. Irgendwann nach 500 Treppenstufen hab ich aufgehört zu zählen. Nach ziemlich genau einer halben Stunde tragen, stand ich oben bei Wissig.» Die Treppen seien selbst runter nur was für Trial-Spezialisten. Die Tourismusseite beschreibt den Weg (für Wanderer in die entgegengesetzte Richtung) deutlich romantischer: «850 steinerne Treppenstufen auf einem romantischen alten Säumerweg recht steil hinunter nach Bauen.»
Nun, ich kann es zwar immer noch nicht ganz glauben, aber meine Erinnerung täuscht mich wohl. Wie auch immer, wir werden es ja dann in Bauen sehen.
Und so kommen wir im hübschen Ort am Urnersee an, fahren durch diesen und beim kleinen Platz bei der Kirche hört die Strasse tatsächlich auf. Erst führt ein steiler Pflastersteinweg hoch, dann kommt – haha, wie witzig – ein Schild, das Velofahrer bittet abzusteigen und die Treppen beginnen.
Ja, jetzt heisst es Velos schultern. Remy nimmt mir zum Glück die eine Packtasche ab, wir hängen sie uns um die Schulter und dann gehts aufwärts.
Der Schweiss tropft und Treppen scheinen nicht zu enden. Nina eilt vorneweg, Remy hält mit und ich folge mit etwas Abstand. Da bleibt Zeit für andere Gedanken. Zum Beispiel wie die beiden am Morgen von Flüelen aus im Gitschen die Kathedrahle sahen, welche uns die Bäckerin zeigte. Ich sah sie leider nicht, ihr:
Wie auch immer. Die Treppen schlängeln sich den Wald hoch. Schade, kann man den Vierwaldstättersee nicht auf Teerstrassen mit dem Velo umrunden. Das Stück ist mit Gepäck brutal hart. Zum Glück kommen uns keine Wanderer entgegen, die uns entgeistert anschauen und allenfalls noch Fragen stellen.
Die Treppen hören irgendwann auf, es folgt ein kleiner Wanderweg und plötzlich stehen wir auf einer Teerstrasse. 30 Minuten hat der schweisstreibende Aufstieg gedauert. Sie gehören neben der Alpe di Neggia und dem Berninapass zu den härtesten der bisherigen Tour. Aber 30 Minuten gehen ja doch ziemlich schnell vorbei. Einmal mehr standen wir erst unten und dachten: Oh, mein Gott. Aber dann machst du mal den ersten Schritt. Und den zweiten und den dritten und plötzlich bist du oben.
Die Aussicht oben von Seelisberg auf den See entschädigt. Bleibt nur noch eine Frage: Wo ist nur diese Strasse hin, auf der ich ganzganzganz sicher vor Jahren genau diese Strecke hochfuhr?