Schön liegt er da, der Marmorera-Stausee, wenn man vom Julier herunter kommt. Die Julia mündet in den See, Bäume säumen die Ufer, eine Felswand auf der anderen Seite und die Passstrasse zwängt sich auch noch zwischen See und Steilhang. Mitte des Sees dann der Wegweiser nach Marmorera, meine 21. Gemeinde auf der Tour dur d'Schwiiz.
Ich radle hoch. Doch die Gemeinde wirkt sehr speziell. Kein Laden, keine Schule, keine Post. Einen Friedhof mit schöner Aussicht gibt's, eine kleine Kirche, einige Einfamilienhäuser – auf einem steht «La Resistenzia». Der Weg windet sich gut 150 Höhenmeter hoch. Dann wird er plötzlich zum Kiesweg. Von einem Ortsschild nichts zu sehen. Ungläubig gehe ich zu Fuss einige Meter auf dem Kiesweg um die Ecke. Doch da ist nichts mehr.
Ich frage die watson-User, ob sie wissen, wo das Ortsschild hingekommen ist. Antworten lassen nicht lange auf sich warten: «Wohl im Stausee», so der Tenor. 1954 sei das alte Marmorera niedergerissen und überschwemmt worden. 29 Häuser und 52 Ställe, das Schulhaus und die Kirche verschwanden.
Die Leute wurden umgesiedelt. Einige von ihnen ins Unterland, andere nach Scalotta unterhalb der Staumauer, in den einen neuen Teil von Marmorera. Die anderen wehrten sich und bauten ihr Marmorera am Hang neben dem See auf. Da radelte ich hoch. «La Resistenzia» ist der Ausdruck dafür. Das einzige, was noch vom alten Marmorera da ist, ist der Friedhof. Er hätte einbetoniert und im See verschwinden sollen. Doch die Einwohner setzten durch, dass die Gräber versetzt werden.
In Scalotta finde ich tatsächlich ein altes Ortsschild an eine Scheune genagelt, gleich neben einem Basketballkorb. Ich knipse es und rufe auf der Gemeindeverwaltung an, warum es kein Schild mehr habe. «Weil wir die gleiche Postleitzahl wie Sur (die Nachbargemeinde) haben, braucht es das nicht», so die Antwort. Mehr wisse Gemeindepräsident Martin Lozza. «Als der See kam, wurde das Schild nicht mehr aufgebaut», sagt er am Telefon. So wird es auch bleiben.
Die Geschichte ist wirklich tragisch. Die Zürcher brauchten Energie und wollten diese aus dem Wasser der Julia gewinnen. Sie brachten die Einwohner Marmoreras – die alle praktisch nur Romanisch oder Italienisch sprachen – dazu einen deutschen Vertrag zu unterzeichnen, damit das Land enteignet werden konnte. An der anschliessenden Gemeindeversammlung stimmten 24 dem Projekt zu, 2 dagegen. Für 80 Jahre wurden die Rechte abgegeben. Am 9. Mai 1954 fand gemäss der Dorfchronik ein letzter Gottesdienst in der Kirche statt, dann wurde geflutet. Serfain Luzio erinnerte sich 2006 in der NZZ daran, dass die Leute nie mehr das Land hergegeben hätten. Aber die Abstimmung fand schon statt. Das Dorf an Zürich verkauft.
Heute wehen EWZ-Flaggen auf der Staumauer. Vom alten Marmorera ist nichts mehr sichtbar. Der Heimatschutz verhinderte, dass die Häuser stehenblieben, als das Wasser kam. Es sei besser so. Das beweist der Krichturm von Graun, der am Reschenpass noch immer aus dem Stausee-Wasser ragt.
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Posted by Tour dur d'Schwiiz mit Reto Fehr on Monday, July 6, 2015
2006 wurde die Zusammenlegung der Gemeinde mit den anderen Orten zu Surses abgelehnt. 24 Einwohner Marmoreras stimmten dagegen, 10 dafür. 2007 erschien der Horror-Film Marmorera mit Anatole Taubmann, der von einer Frau handelt, die plötzlich auf dem See auftaucht. Er thematisiert das Mysterium der Identität des Dorfes.
2015 wurde erneut über eine Gemeindefusion im Surses abgestimmt. Der Antrag wurde angenommen. Ab 2016 werden die Gemeinden zusammengelegt. In Marmorera stimmten 9 Personen zu, 2 lehnten ab.