«8 Wochen später», informiert ein Insert ziemlich zu Beginn des Stuttgarter «Tatort: Freigang». Das Insert ist nicht elegant: Die Anzeige ist die einfachste – böse gesagt: plumpeste – Form zu erzählen, dass Zeit vergangen ist. Das Insert ist aber dennoch erstaunlich: Dass in einem «Tatort» Zeit vergehen kann, kommt eher selten vor. Gewöhnlicherweise rungst der Standard-Sonntagabendkrimi seine Ermittlung so zack-zack durch.
Auf die durchgerungste Standard-Ermittlung versteht sich kaum jemand besser als die für den SWR (Stuttgart, Bodensee, Ludwigshafen) dauerproduzierende Maran-Film (Geschäftsführerin: Sabine Tettenborn), weshalb «Freigang» (SWR-Redaktion: Brigitte Dithard) noch mehr erstaunt: Das übliche Setting aus Leiche und anschliessender Runde bei drei bis vier Verdächtigen ist in der Stuttgarter Folge ersetzt durch eine Variante ins Feld von «Columbo»: Rekonstruktion der Umstände – nicht, wer den Mord begangen hat interessiert, sondern wie er organisiert wurde.
Folglich lässt die erste Leiche den Film so kalt wie den mit seiner Scheidung befassten Bootz (Felix Klare), weshalb die Szene genaugenommen überflüssig ist; sie wirkt wie eine Reminiszenz an den ewig vermuteten Publikumsgeschmack: die Angst, dass die Zuschauerin Panikzustände kriegt und vergisst, dass der «Tatort» ihr Allerliebstes ist, wenn sich ein Film mal trauen sollte, nicht so anzufangen wie alle anderen.
Dabei ist «Freigang» in der Anlage originell: Der Häftling, der als Auftragskiller vom korrupten Sicherheitschef «Der King» (Herbert Knaup) rausgelassen wird, hat das perfekte Alibi. Und das Undercover-Einschleusen von Lonely Lannert (Richy Müller) als neuen Gefängniswärter passt zur Vorgeschichte der Figur und wird vor allem ernstgenommen (Buch: Sönke Lars Neuwöhner, Martin Eigler). Der Film nimmt sich Zeit für seine Geschichte, die Dialoge, etwa das Lannert-King-Gespräch, dauern länger als das übliche Wo-waren-Sie-Abgefrage und vor allem die Details – das Treffen im Bordell, das irritierend anerzählt wird (Bootz im Redlight-District), der Köder der «Unregelmässigkeiten», die Nachfragemöglichkeit bei der vorherigen Arbeitsstelle – sprechen für ein umsichtiges, absichtsvolles Erzählen.
Dass «Freigang» dann keine wirklich grosse Folge geworden ist, liegt auch an den Schauspielern (Regie: Martin Eigler). Richy Müller etwa zieht, wie der Sportreporter sagen würde, seinen Stiefel so durch, auch wenn er als JVA-Seiler doch subalterner auftreten müsste denn als Hauptoberchefkommissar. Er ist – trotz des tollen Lederjackenjacketts bei der Beerdigung (Kostümbild: Stephanie Kühne) – immer nur Richy Müller, wo doch die zweite Identität Variationen im Spiel erzwingen müsste. Wie man überhaupt sieht, dass Spannung aus Zwang erwächst: Der Reiz der Folge liegt im Versteckspiel; die Lüge, die Lannert performt, treibt das Erzählen an, weil Ausreden und Erklärungen gefunden werden müssen. Deshalb wird die Justiz, der die Hände gebunden sind, hier viel nüchterner behandelt als im Kölner-Kindergewaltschocker vor einem Monat.
«Freigang» braucht die Regeln der Justiz für seine Geschichte, sie bedingen Lannerts Einsatz. Deshalb hätte man sich an dieser Stelle auch tieferen Einblick in die Abläufe gewünscht (ebenso beim Gefängnissystem). Denn schwach wirkt das Buch, wo es die Zweifel am Sinn der Aktion emotional begründen muss, wenn Bootz dem Kollegen die Lockvogel-Idee (die es ja nur für das Finale eines Fernsehfilms braucht) erklärt mit dem Hinweis: «Vertrau doch mal meinem Instinkt.» Eben nicht: Der Instinkt von Busy Bootz oder jedem anderen «Tatort»-Kommissar ist tausendmal uninteressanter als eine geschickte, rationale Konstruktion (Warum hätte etwa eine Aussage von Frau Scheffler nicht gereicht, um das System des King hochgehen zu lassen? – So was fragt sich die aufmerksame Zuschauerin vor der Knipse doch). Man merkt in diesen Momenten, dass noch mehr drin gewesen wäre. Das unterscheidet das Drehbuch vom späten Didier Cuche auf der Streif: Es findet trotz seiner tollen Anlagen nicht immer die Ideallinie.
Spassvögel könnten sagen, dass «Freigang» ein würdiger Abschied vor der Sonntagabendkrimi-Sommerpause (unterbrochen nur von zwei Polizeirufen Anfang Juli und Anfang August) ist, insofern er das Thema der Saison (Gewalt, bevorzugt gegen Frauen) auch noch einmal durchnimmt. Dahinter steckt, wie die zeitgenössische Figur Schefflers zeigt, die grosse Verunsicherung des Mannes in seiner neuen Rolle als Underachiever. Der Blick auf die Performance des sogenannten King stiftet hier eher Sentimentalität als Hoffnung: Der Mann als Cowboy mit den ganz dicken Cojones kann nicht in der freien Wildbahn, sondern lediglich in der abgeschirmten Welt der JVA weitergespielt werden.
Ein Satz für Amateure: «Es ist gefährlich, auch wenn sie ein erfahrener Profi sind»
Ein Credo, mit dem man NSA-Direktor werden kann: «Ich interessiere mich für meine Leute»
Eine Antwort für eine Rätsel, das nicht leicht zu knacken ist: «Klein, unauffällig und erfolgreich»