Soeben hat Bayern München die schlimmste aller schlimmen Niederlagen kassiert. Obwohl es lange, so lange, so gut ausgesehen hat.
Es sind zwei grosse Teams, die sich an diesem Abend vor 98'000 Fans im Camp Nou von Barcelona gegenüberstehen. Beide haben sich im Halbfinal jeweils mit dem Gesamtskore von 4:3 durchgesetzt; Manchester United gegen Juventus Turin, die Bayern gegen Dynamo Kiew.
Bereits in den Gruppenspielen waren sich die beiden Kontrahenten gegenübergestanden, trennten sich jeweils unentschieden. Aber heute muss es einen Sieger geben. Wichtige Spieler fehlen beiden: Captain Roy Keane und Paul Scholes den Engländern, Weltmeister Bixente Lizarazu und Topskorer Giovane Elber dem Gegner.
Die Deutschen legen vor. Enfant terrible Mario Basler schlenzt einen Freistoss an der Mauer und Goalie Peter Schmeichel vorbei ins Tor, schon nach sechs Minuten führen die Bayern mit 1:0. Der Vorsprung gibt ihnen Sicherheit. Sie kontrollieren die Partie, haben sie im Griff. Und vergeben gar die Siegsicherung, Mehmet Scholl trifft den Pfosten, kurz vor Schluss Carsten Jancker mit einem Fallrückzieher die Latte.
In den Katakomben des riesigen Stadions betritt Bayern-Präsident Franz Beckenbauer um die 90. Minute herum einen Lift, gemeinsam mit UEFA-Präsident Lennart Johansson und Bayern-Fan Boris Becker. Er macht sich auf, um auf dem Rasen zur Siegerehrung zu erscheinen.
Manchester United hat aber immer noch die Chance, zumindest die Verlängerung zu erreichen. Doch die Zeit verrinnt, schon läuft die 91. Minute.
David Beckham schlägt einen Corner von der linken Seite, Goalie Schmeichel ist aufgerückt, die Bayern bringen den Ball nicht aus der Gefahrenzone. Ryan Giggs versucht es mit einer Direktabnahme, die ihm misslingt. Doch Teddy Sheringham fälscht den Ball noch ins Tor ab. Es steht tatsächlich 1:1!
Und das Spiel ist noch nicht aus. Die Engländer haben nun Lunte gerochen, denn die Bayern sind völlig von der Rolle. Sie taumeln, wanken wie ein Boxer, der nur noch den Gong abwartet, welcher die Runde beendet, damit sie sich aufrichten und neu sammeln können.
Eigentlich sind sie ja schon zum Feiern bereit gewesen. Der Champagner steht schon bei der Ersatzbank, ebenso eine Kiste mit Dächlikappen. «Champions-League-Sieger 1999 – FC Bayern München» steht drauf. Mario Basler, in der 89. Minute ausgewechselt – Standing Ovation für den Matchwinner! –, trägt sie bereits. Er nimmt sie rasch wieder ab.
«Durchschnaufen» lautet die Parole der Bayern, dann halt in die Verlängerung. Aber Manchester United gibt ihnen keine Gelegenheit zum Durchschnaufen.
Noch einmal tritt Beckham einen Corner, es läuft bereits die 93. Minute, wieder kommt der Ball von der linken Seite hoch vors Bayern-Tor von Oliver Kahn. Sheringham, eben noch Torschütze, kommt zum Kopfball, doch der ist weder wuchtig noch platziert. Dafür die perfekte Vorlage für Ole Gunnar Solskjaer. Der Norweger hält den Fuss hin, lenkt den Ball ins Netz. 2:1! Päng! Ein gewaltiger Hammerschlag lähmt die Bayern, während Spieler und Fans der «Red Devils» ausser sich vor Freude sind.
Im Lift hören Beckenbauer und seine Begleiter Jubel. «Wir dachten: ‹Okay, der Abpfiff›», erinnert sich der «Kaiser». «Als wir kurze Zeit später durch die Katakomben in Richtung Rasen gingen, sahen wir die ManU-Spieler jubeln, die Bayern lagen am Boden. Ich dachte: ‹Mist, doch der Ausgleich›. Kurz darauf blinkt es an der Anzeigetafel: 1:2! Wir haben uns angeguckt und konnten es nicht glauben.»
«Steht auf, wenn ihr Männer seid», ruft Schiedsrichter Pierluigi Collina den Bayern-Spielern angeblich zu. Einige von ihnen sind erstarrt, liegen nach dem zweiten Gegentreffer regungslos auf dem Rasen, weinen hemmungslos.
Sammy Kuffour, der immer fröhliche Verteidiger aus Ghana, schluchzt, als gäbe es kein Morgen und haut vor Wut mit der Faust auf den Boden. «Wenn du so niedergeschlagen bist, hast du dich nicht mehr unter Kontrolle», sagt er im März 2014. «Wenn ich irgendwo auf der Welt erkannt werde, erinnern mich die Leute immer an diese Szenen.» Das Spiel habe er nie gesehen, er wolle das nicht. «Es tut mir immer noch weh!»
Zwei Jahre später dürfen die Bayern doch noch den Champions-League-Pokal in die Höhe stemmen. Dank Kahns Paraden im Penaltyschiessen schlagen sie Valencia.
Alex Ferguson, die Managerlegende von Manchester United, ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein Sir. Die Queen adelt den Kaugummi-Dauerkauer, der nicht nur im Final mit der Einwechslung von Sheringham und Solskjaer alles richtig gemacht hat. Zuvor hat Ferguson Manchester United auch zum englischen Meistertitel und zum Cupsieg geführt. Das «Treble», wie die Engländer sagen, drei Titel in einer Saison, das gab es noch nie.
Ferguson bringt eine der verrücktesten Entscheidungen der Fussballgeschichte in drei Worten perfekt auf den Punkt:
Am nächsten Tag hatte ich eine Schulreise und war der einzige Fussballfan in der Klasse, welcher gut drauf war! Sind das schöne Erinnerungen :-D