Es laufen die letzten Sekunden im Steaua-Stadion von Bukarest. Die Schweizer werfen alles nach vorne. Auf den Rängen feiern die 30'000 heissblütigen rumänischen Fans bereits den Sieg, als Alain Sutter sich auf dem linken Flügel noch einmal durchtankt.
Seine Flanke findet Stéphane Chapuisat, der sofort abzieht. Torhüter Silviu Lung kann nur aprallen lassen, doch beim Kopfball von Innenverteidiger Dominique Herr reagiert er noch einmal glänzend. Aus, Schluss, vorbei.
Die Schweiz verliert ihr letztes EM-Quali-Spiel gegen Rumänien 0:1 und verpasst damit die Chance, sich erstmals seit der WM 1966 in England wieder für ein grosses Turnier zu qualifizieren, auf fahrlässige Art und Weise. Ein Unentschieden hätte dem Team von Uli Stielike gereicht.
Gross ist die Euphorie der Schweizer Fussball-Fans im Vorfeld des Schicksalsspiels in Bukarest, denn die Nati weiss nach Jahren der Frustration endlich wieder zu begeistern. 3:2 gewinnen Sforza, Chapuisat, Türkyilmaz und Co. nach 0:2-Rückstand in Bulgarien, mit 7:0 wird San Marino nach Hause geschickt.
Ein 0:0 in Rumänien – das sollte auch gegen das Starensemble um «Karpaten-Maradona» Gheorghe Hagi möglich sein. Doch der Gedanke ans Unentschieden erweist sich als fatal. Die Schweizer wirken in den Tagen vor der Abreise nervös, eine leichte Hirnerschütterung von Stéphane Chapuisat führt dazu, dass bald der ganzen Nation der Schädel brummt.
Viel zu passiv starten die Jungs von Uli Stielike in Bukarest dann in die Partie. Viellicht auch, weil sie von der Kulisse fast erschlagen werden. Das Steaua-Stadion platzt an diesem nebelverhangenen Winterabend aus allen Nähten. Überall auf dem Feld liegt ausgerolltes WC-Papier, das die Zuschauer auf den Platz geworfen haben.
«Es war das Extremste, was ich in meiner 15-jährigen Karriere erlebt habe. Der extreme Lärmpegel, die WC-Rollen, die dauernd in meinen Strafraum flogen. Mein Tor war mit WC-Papier zugekleistert», erinnert sich Goalie Stefan Huber später.
Unterstützung von Fans aus der Heimat gibt es kaum. Weil die rumänischen Kontrolleure den für die helvetischen Anhänger vorgesehen Sektor nicht freihalten können, kommen diese nicht ins Stadion. Bei den Eingängen entsteht ein Gedränge, das bald in eine wilde Prügelei ausartet. «Chaos, Schläge, Terror: Schweizer Nati-Fans in der Hölle von Bukarest», titelt der «Blick» nach der Partie.
Auf dem Feld fangen sich die Schweizer nach der schwachen Anfangsphase bald. Doch Chapuisat, Bonvin und Türkyilmaz verwerten ihre Chancen zum erlösenden 1:0 nicht. Und so werden die Schweizer in der 71. Minute kalt erwischt: Dorin Mateut zieht kurz vor dem Strafraum ab, Huber versucht noch zu klären, doch der Ball zappelt im Netz.
«Über den Treffer kann man diskutieren. Der Schuss kam aus 20 Metern. Und wenn alles gut gelaufen wäre, hätte ich den Ball gehalten», so Huber. «Aber ich war damals angeschlagen, mein linkes Knie tat weh.» Erst später stellt sich heraus, dass sich der damalige Lausanne-Goalie einen Monat zuvor das hintere Kreuzband gerissen hatte.
Und so besiegelt der Weitschuss von Mateut das Schweizer Schicksal. «Am Willen hat es nicht gefehlt, und es ist wirklich schade, dass wir nicht weitergekommen sind», kommentiert der enttäuschte Trainer Uli Stielike. «Aber über die gesamte Qualifikationsphase gesehen, kann ich nicht hadern. Dass wir im letzten Spiel noch die Chance hatten, um die EM-Teilnahme zu spielen, ist erfreulich. Auf dieser Basis lässt sich weiterarbeiten.»
Das tut aber nicht Stielike, sondern Roy Hodgson. Dem deutschen Europameister von 1980 fehlt bei der Nati die tägliche Arbeit mit den Spielern, er will in den Klubfussball. Und so kommt es zur Rochade: Stielike übernimmt Xamax, dafür kommt Hodgson zur Nati.
Ein Glücksfall für die Schweiz. Unter Hodgson erlebt die Fussball-Schweiz wieder rosige Zeiten. Den Grundstein dafür hat aber Stielike gelegt. «Ihm haben wir ein neues Selbstverständnis und die Winnermentalität zu verdanken, Hodgson hat dann die taktische Schulung vorangetrieben», erklärt Andy Egli lange nach seinem Nati-Rücktritt.
So geht das 0:1 in Rumänien zwar als Rückschlag in die Nati-Geschichte ein, aber nur als ein kleiner. Denn die Schweiz zieht ihre Lehren daraus und qualifiziert sich für die WM 1994 in den USA und die EM 1996 in England. «Das war damals der Aufbruch zu grossen Taten», so Huber. Die lange Durststrecke war endgültig beendet.