Vor ein paar Jahren sorgte der Harvard-Psychologe Steven Pinker für Verblüffung mit der These: Noch nie war die Menschheit so friedlich wie im 21. Jahrhundert. Die Menschen friedlich?, tönte es empört zurück. Will uns da jemand für blöd verkaufen? Wie kann das sein, angesichts von Bürgerkriegen, gescheiterten Staaten, islamistischen Fanatikern und Nordkorea?
Doch Pinker lieferte in seinem Bestseller «The Better Angels of our Nature» nicht nur die unwiderlegbaren empirischen Zahlen, er zeigte auch auf, dass nicht nur der Krieg, sondern auch die Kriminalität massiv zurückgegangen ist; und dass heute die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch eines gewaltsamen Todes stirbt, so klein ist wie noch nie.
Warum ist diese Tatsache weitgehend ignoriert worden und weshalb sind heute noch viele Menschen davon überzeugt, dass sie in einer äusserst gewaltsamen Zeit leben und dass diese Gewalt im Begriff ist zu eskalieren? Die Antwort auf diese Frage liegt im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust.
Der Holocaust war derart unvorstellbar grausam, dass viele Menschen – und es sind nicht die dümmsten – die Meinung vertreten, dass er letztlich unerklärbar sei. Trotzdem begannen Sozialwissenschaftler aller Richtungen zu forschen, wie es dazu kommen konnte. Nebst ökonomischen Erklärungen wie Massenarbeitslosigkeit und Verelendung spielten soziologische und psychologische Theorien eine tragende Rolle.
Der autoritäre Charakter war eine dieser Theorien. Sie besagt, dass die unterdrückte Sexualität puritanische Kleinbürger in brutale Monster verwandeln kann. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich folgerte daraus, dass eine befreite Sexualität und eine antiautoritäre Erziehung Gewalt wirksam verhindern können. Sie wurde zu einem zentralen Dogma der kulturellen Revolution der Achtundsechziger Generation.
Eine bedeutende Rolle in dieser Diskussion spielte die amerikanische Ethnologin Margaret Mead. Sie erforschte das Sexualleben der Samoaner in der Südsee und stellte fest, dass es für westliche Begriffe sehr freizügig war. Mead berichtete ausführlich über Liebes- und Sexschulen für Teenager. Dabei kam sie zum Schluss: «Krieg ist bloss eine Erfindung» – wahrscheinlich eine männliche, bleibt hinzuzufügen.
Auch die engsten Verwandten der Menschen wurden in die Diskussion miteinbezogen, die Schimpansen und die Bonobos. Die beiden Affenarten leben im Kongo auf den beiden verschiedenen Seiten des Stromes. Obwohl sie äusserlich schwer zu unterscheiden sind, ist ihr Charakter völlig verschieden. Kurz ausgedrückt: Die Schimpansen sind brutal und erledigen ihre Konflikte mit Gewalt. Die Bonobos hingegen sind friedlich und erledigen ihre Konflikte mit Sex. Was ist der Mensch, Schimpanse oder Bonobo?
In der Nachkriegszeit dominierte die Ansicht, dass er mehr Bonobo sei und Gewalt und Grausamkeit daher von falschen kulturellen Anreizen verursacht werden. Heute neigt die Forschung eher zur Schimpansen-Sicht. Darwins Evolutions- und die Spieltheorie dominieren die Sozialwissenschaften. Der homo sapiens hat sich dank seiner Brutalität durchgesetzt. Friedlich wird er nur, wenn es gelingt, diese Brutalität mit zivilisatorischen Mitteln in den Griff zu kriegen.
Der homo sapiens ist nicht nur brutal, er ist auch intelligent. Irgendwann begriff er, dass es für ihn vorteilhafter ist, einen besiegten Gegner nicht abzuschlachten, sondern zu unterwerfen. Die Kriege wurden «produktiv», wie dies der Historiker Ian Morris nennt. Es entstanden Staaten und diese hatten innerhalb ihrer Grenzen grosses Interesse daran, dass Frieden herrscht. Wieder verkürzt ausgedrückt heisst dies: Je grösser der Staat, desto friedlicher die Gesellschaft. Das alte Rom und China sind Beispiele für diese These.
Rom hat vor 2000 Jahren den Westen, Beijing den Osten beherrscht. Einen globalen Weltpolizisten, einen Globocop gab es erstmals im 19. Jahrhundert mit dem britischen Imperium. Solange die Briten die Weltmeere beherrschten, herrschte auch auf dem Land Frieden. Nach der Niederlage Napoleons gab es im 19. Jahrhundert relativ gesehen wenig Krieg.
Die Pax Britannica ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Die Folgen waren verheerend. Wirtschaftlicher Protektionismus und überbordender Nationalismus zerstörten Demokratie und Rechtsstaat. Totalitäre Regimes wie Faschismus und Kommunismus entstanden, die zum Gemetzel des Zweiten Weltkriegs führten. Aus den Trümmern dieses Krieges stiegen die USA zum neuen Globocop auf.
Schon Abraham Lincoln hat die USA einst als «die letzte Hoffnung auf Erden» bezeichnet («the last best hope of earth»), die ehemalige US-Aussenministerin Madeleine Albrigth hat von den Vereinigten Staaten als «unverzichtbare Nation» («indispensable nation») gesprochen. Das stimmt heute mehr denn je. Ob es gilt, die Schlächter der IS zu bekämpfen oder Putin in die Schranken zu weisen – ohne die Amerikaner läuft gar nichts.
Auch die Amerikaner werden jedoch die Rolle des Weltpolizisten nicht bis in alle Ewigkeit spielen können. Bücher und Studien, die den kommenden Niedergang der Supermacht USA voraussagen, füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Innere Widersprüche und äussere Bündnisse werden den amerikanischen ähnlich wie den britischen Globocop dereinst zu Fall bringen.
Und dann? Wird die Menschheit erneut im Chaos versinken, ja, sich möglicherweise in einem Krieg aller Kriege selbst ausrotten?
Der Historiker Ian Morris glaubt, dass der technische Fortschritt uns aus der Patsche helfen wird, dass wir dank künstlicher Intelligenz den Schimpansen in uns überwinden und dem Bonobo zum Durchbruch verhelfen werden. Er schreibt in seinem Buch «Krieg»:
«Der Siegeszug der Computer verändert nicht nur den Krieg; er verändert alles, selbst das Tier in uns. Die biologische Evolution hat uns ein Gehirn geschenkt, das so leistungsfähig ist, dass es uns ermöglicht hat, eine Kulturrevolution zu erfinden, und diese kulturelle Revolution hat nun einen Punkt erreicht, an dem die Maschinen, die wir bauen, beginnen, unsere biologische Evolution zu beeinflussen – mit dem Resultat, dass sich das ‹Spiel des Todes› in ein ‹Endspiel des Todes› verwandelt, das wiederum die Möglichkeit schafft, dass Gewalt völlig irrelevant werden könnte.»
Mit anderen Worten: Morris geht davon aus, dass menschlicher Erfindungsgeist es möglich gemacht hat, dass wir unsere begrenzte biologische Intelligenz mit einer unbegrenzten künstlichen Intelligenz verschmelzen können und so in der Lage sein werden, eine globale Ordnung zu schaffen, die keine Kriege mehr braucht.
Das tönt nach Science Fiction, aber wer hat eine bessere Idee? Und ja, bis es so weit ist: Seien wir dem amerikanischen Globocop hin und wieder ein bisschen dankbar – auch wenn er es uns weiss Gott nicht einfach macht.
Gestaltung: Anna Rothenfluh