Die kommenden Wahlen in den USA verdienen zu Recht das Prädikat «historisch». Für Herausforderer Joe Biden stehen Anstand, Rechtsstaat und Demokratie auf dem Spiel. Präsident Donald Trump sieht sich als letzte Verteidigungslinie gegen Sozialismus und Anarchie. Doch abgesehen von den pathetischen Beschwörungen der Politiker: Was sind die tiefer liegenden Treiber dieser Wahl? Dieser Frage gehen wir mithilfe von drei kürzlich erschienen Polit-Büchern nach.
Das Buch ist zwar bereits zwei Jahre alt, doch es stürmt erneut die Bestsellerlisten. Die Rede ist von «White Fragility» (Weisse Zerbrechlichkeit), verfasst hat es Robin DiAngelo. Die Autorin ist weiss, hat sich als Soziologin auf die Beziehung der Rassen spezialisiert und vermittelt dieses Wissen in Seminaren, die das Verhältnis von Weissen und Farbigen entspannen sollen.
Schon in der Einführung macht DiAngelo klar, dass Rassismus kein Problem des Individuum ist. «Gemäss der Ideologie des Individualismus ist Rasse irrelevant», macht sie klar.
Rassismus ist folgerichtig weder ein Problem des Einzelnen noch der Hautfarbe. Vielmehr stellt DiAngelo fest:
Für die These eines systemischen Rassismus zählt DiAngelo zahlreiche und überzeugende Beispiele auf: Die zehn reichsten Amerikaner sind alle weiss. 93 Prozent der Manager, die das TV-Programm bestimmen, sind weiss. Die überwiegende Mehrheit der Parlamentarier sind weiss, ebenso 83 Prozent der Lehrer, bei den Universitätsprofessoren sind es 84 Prozent. Etc. etc.
Rassismus ist kein Privileg der Weissen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. DiAngelo fasst ihn wie folgt zusammen:
Weil Rassismus nicht individuell ist und oft unbewusst abläuft, sind für DiAngelo nicht die offenen Rassisten wie etwa die Anhänger der White-Supremacist-Bewegung das eigentliche Problem. Vielmehr sind es die verklemmten Rassisten, die oft bei den aufgeklärten Liberalen zu finden sind. Sie stellt fest:
Damit sind wir beim Kern der «weissen Zerbrechlichkeit» angelangt. DiAngelo versteht darunter Folgendes:
Weil der systemische weisse Rassimums mit Macht verknüpft ist, wird er praktisch unüberwindbar. So notiert DiAngelo:
Robin DiAngelos Konzept der «weissen Zerbrechlichkeit» wird so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Der einzelne weisse Mensch kann dem Rassismus gar nicht entrinnen. An diesem Punkt setzt denn auch die Kritik an DiAngelo an. So schreibt Carlos Lozanda in der «Washington Post»:
John McWhorter, ein schwarzer Professor an der Columbia University, geht in der Zeitschrift «Atlantic» noch einen Schritt weiter. Er bezeichnet DiAngelo als selbst ernannte Hohepriesterin und stellt fest: «Das Problem besteht darin, dass ‹White Fragility› ein Gebetbuch ist für ein Phänomen, das nur als Kult bezeichnet werden kann.»
DiAngelos Befund, dass sich der weisse Rassismus dank seiner Verbindung mit Macht vom Rassismus der Farbigen unterscheidet, trifft unzweifelhaft zu. Daher reicht es nicht, wenn sich Weisse mit Sprüchen wie «Ich kenne Farbige», «Ich bin in den Sechzigerjahren auf die Strasse gegangen», oder «Die wahre Unterdrückung liegt in der Klassengesellschaft» aus der Verantwortung stehlen wollen.
Gleichzeitig trifft es zu, dass DiAngelo zu absolutistisch argumentiert. Um ihrer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu entrinnen, müssen wir uns tatsächlich der Klassen-Frage zuwenden.
Schon kurz nach Trumps Wahlsieg warfen linke Kritiker den Demokraten vor, sie hätten sich zu intensiv auf Gender-, Sexualitäts- und Minderheitsfragen gestürzt und dabei das Wesentliche aus den Augen verloren: die Klassenfrage.
Diese Kritik wird auch von Michael Lind geteilt, einem bekannten Publizisten. Er gehört jedoch nicht dem progressiven, sondern dem konservativen Lager an. Trotzdem könnte der Titel seines jüngsten Buches auch von einem marxistischen Assistenzprofessor stammen. Er lautet: «The New Class War» (Der neue Klassenkrieg).
Auch die Tonlage unterscheidet sich zunächst kaum von einer sozialistischen Kampfschrift. So stellt Lind gleich zu Beginn klar:
Diese Ungleichheit und nicht die Rassenfrage ist in den Augen Linds verantwortlich für den Niedergang der amerikanischen Gesellschaft. Als Beweis dieser These fügt er an, das in allen entwickelten Nationen der Populismus auf dem Vormarsch sei. Ob Matteo Salvini in Italien, Marine Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland, «beinahe alle politischen Unruhen in Westeuropa oder Nordamerika können mit einem neuen Klassenkrieg erklärt werden», so Lind.
Der neue Klassenkrieg trennt die Menschen nicht nur ideologisch, sondern auch geografisch. Die neue «kreative Klasse» lebt in den Städten, die alte Arbeiterklasse auf dem Land. Lind schreibt:
In einer nostalgisch gefärbten Sicht lässt Lind den «guten» Kapitalismus der Nachkriegszeit wieder aufleben. Er nennt ihn «demokratischen Pluralismus» und beschreibt ihn wie folgt:
Demgegenüber stellt Lind den «bösen» Kapitalismus, den er technokratischen Neoliberalismus nennt. Er ist das Resultat der Verbindung einer gierigen Managerklasse und einer arroganten kulturellen Elite, die dank einer globalisierten Wirtschaft die traditionelle Arbeiterschaft entmachtet und an den Rand der Armutsgrenze getrieben haben. Das Resultat beschreibt Lind wie folgt:
Sollte dieser «böse» Kapitalismus nicht überwunden werden, droht ein schlimmes Ende: eine Gesellschaft, die von einer gierigen und technokratischen Oligarchie beherrscht und von populistischen Scharlatanen bedroht wird. Lind droht zwar nicht direkt mit der Faschismus-Keule. Doch er stellt fest:
Der technokratische Neoliberalismus gaukle uns vor, dass die Klassenfrage überwunden sei. Wer tüchtig sei, und vor allem wer über eine gute Ausbildung verfüge, dem stünden alle Türen offen. Daher die permanente Indoktrination zum lebenslangen Lernen und der Zwang, immer weiter Diplome zu erlangen. Für Lind ist das Hokuspokus. Er stellt nüchtern fest:
Um diese Macht wiederzuerlangen, schlägt Lind – wie übrigens auch viele Gewerkschafter – vor, zu den Zuständen der «goldenen 30 Jahre» der Nachkriegszeit zurückzukehren. Das bedeutet, das Rad der Globalisierung wieder zurückzudrehen und die Wirtschaft auf nationale Interessen auszurichten.
Als Vorbild dienen ihm die ostasiatischen Demokratien Japan, Südkorea und Taiwan. Diese Länder würden beweisen, dass Neoliberalismus nicht das einzige Modell für eine moderne High-Tech-Demokratie sei, so Lind. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Europa würden diese Nationen weniger Immigranten ins Land lassen, und sie hätten Fabriken in weit geringerem Umfang in Billigländer ausgelagert. Daher würden diese Länder auch nicht von demagogischen Populisten heimgesucht. Lind stellt fest:
Die Analyse des konservativen Michael Lind hat, zumindest was die USA betrifft, einen gravierenden Mangel. Im Magazin «Foreign Affairs» hat Amy Chua, Professorin an der Yale Law School, zu Recht darauf hingewiesen: «In den Vereinigten Staaten hat alles, was mit Klasse zu tun hat – jeder politische Beschluss, jeder Anlass, jedes Desaster, das die Armen betrifft – unweigerlich eine Rassen-Dimension und das Potential, die Spannungen zwischen den Rassen zu verstärken.»
Die Rassen- gegen die Klassenfrage auszuspielen führt daher nicht weiter. Wir brauchen noch eine dritte Dimension.
Ezra Klein ist ein aufstrebender Star im US-Politjournalismus. Er ist der Mitbegründer des Online-Newsportals Vox (eine Art amerikanische Version von watson). Sein kürzlich erschienenes Buch «Why We’re Polarized» wird bereits als Sachbuch des Jahres gefeiert. Unter dem Titel «Der tiefe Graben» wird es bald auch auf Deutsch erhältlich sein.
In seinem Buch fasst Klein viele Studien zusammen, darunter auch eine Studie der beiden Politologen Shanto Ivengar und Sean Westwood. Die beiden haben rund 1000 Menschen vor folgende Aufgabe gestellt:
Die Testpersonen erhielten fiktive Bewerbungen von zwei Hochschulabgängern für ein Stipendium und mussten sich für den Gewinner entscheiden. Die Bewerbungen waren praktisch identisch. Nur in drei Punkten unterschieden sie sich: Leistungsnoten, Rassen- und Parteizugehörigkeit.
Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass die besseren Noten den Ausschlag geben würden. Doch das war nicht der Fall. Auch die Rassenzugehörigkeit gab nicht den Ausschlag. Es war die Parteizugehörigkeit. Demokraten erteilten das Stipendium Demokraten, Republikaner bevorzugten Republikaner.
Für Ezra Klein ist die Parteizugehörigkeit in den Vereinigten Staate zu einer Mega-Identität geworden, die alle anderen Identitäten überstrahlt. Ob Religion oder Fangemeinde eines Sportklubs, sie alle müssen in die zweite Reihe zurücktreten. Klein stellt fest:
Die Polarisierung der amerikanischen Politik ist ein relativ junges Phänomen. In der Nachkriegszeit beklagten sich die Politologen, dass es zwischen den beiden Parteien zu viele Gemeinsamkeiten gebe, und dass sie zu viele Kompromisse schliessen würden.
Noch bei der Präsidentenwahl im Jahr 2000 waren diese Klagen zu hören. Der «mitfühlende Konservative» George W. Bush und der gemässigte Demokrat Al Gore seien sich viel zu ähnlich, wurde bemängelt. Eine Klage allerdings, die sich als unberechtigt erweisen sollte.
Schuld an dieser Ähnlichkeit war die damalige Zusammensetzung der Parteien. Die Demokraten bestanden de facto aus zwei Parteien. Im Süden waren sie konservativ und teilweise offen rassistisch. Die sogenannten Dixiecrats konnten immer wieder das Zünglein an der Waage spielen und die progressiven Demokraten des Nordens zwingen, moderate Kompromisse einzugehen.
Heute gibt es keine Dixiecrats mehr. Die Demokraten sind die Multikulti-Partei geworden, die sehr viele Minderheiten unter einen Hut bringen muss. Die Südstaaten sind derweil fest in den Händen der überwiegend weissen Republikaner. Die beiden Parteien stehen deshalb vor völlig verschiedenen Ausgangslagen. Klein fasst sie wie folgt zusammen:
Die politische Mega-Identität umfasst nicht nur alle Lebensbereich, sie macht uns zu Gefangenen. «Wir sind so in unseren politischen Identitäten eingesperrt, dass de facto kein Kandidat, keine Information und kein Zustand uns zwingen kann, unsere Meinung zu ändern», stellt Klein fest.
Was er damit meint, lässt sich an einem Schweizer Beispiel erläutern:
Roger Köppel ist ein intelligenter Mann. (Glaubt mir, ich habe jahrelang mit ihm zusammengearbeitet.) Stellt euch nun vor, er käme aufgrund neuer Informationen und Analysen zur Einsicht, dass die EU eigentlich eine ganz vernünftige Sache sei und dass die Schweiz mit ihr kooperieren sollte. Was würde geschehen? Die SVP würde ihn fallenlassen und die «Weltwoche» würde pleite gehen. Zurück zu seinen alten linksliberalen Ex-Kollegen gehen kann er nicht, da hat er jeden Kredit verspielt.
Mit anderen Worten: Köppel wäre wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich am Ende. Deshalb ist es hoffnungslos, Köppel dazu zu bewegen, seine Meinung über die EU zu ändern. Er ist in seiner Meinungs-Identität gefangen und wird nur noch Informationen zulassen, die sein Feindbild der EU bestätigen.
Nüchtern stellt Klein daher fest: «Je smarter eine Person ist, desto dümmer macht sie die Politik.»
Je ausgeprägter die politische Meinungs-Identität ist, desto stärker beeinflusst sie unser Verhalten. Eine wichtige Rolle spielen dabei Feindbilder. Klein schreibt:
Diese Gefühlslage macht es fast unmöglich, dass Politiker Kompromisse schmieden. Es geht einzig noch darum, den Gegner zu besiegen, ja zu vernichten. Es ist kein Zufall, dass bei Trump jedes zweite Wort «winning» ist.
In der amerikanischen Politik hat die politische Mega-Identität durch die demographische Entwicklung einen zusätzlichen gewaltigen Schub erhalten. Die Weissen fürchten um ihre Macht, und «die Wahl eines schwarzen Präsidenten, der eine junge, multikulturelle Koalition anführt, macht diesen Übergang überdeutlich und bedrohlich», so Klein.
Rassismus, Klasse oder Identität: Was also treibt die US-Politik? Die Frage ist falsch gestellt. Die drei Treiber überlappen sich. Das hat Martin Luther King schon vor Jahrzehnten erkannt. Im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg stellte er fest: «Das Problem des Rassismus, die wirtschaftliche Ausbeutung und das Problem des Krieges gehen Hand in Hand.» Kings Einsicht ist heute noch gültig.