Max Webers These, die er 1904 in seinem Grundlagenwerk der Religionssoziologie «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» formulierte, ist bis heute umstritten. Der deutsche Soziologe verglich die Geschichte der Konfessionen und kam zum Schluss, dass ein enger Zusammenhang zwischen der «protestantischen Ethik» und dem «Geist des Kapitalismus» besteht. Er folgerte, dass die religiöse Weltanschauung der Protestanten, insbesondere der Calvinisten, dem kapitalistischen Prinzip der Akkumulation von Kapital und Reinvestition von Gewinnen ein idealer Hintergrund für die Industrialisierung ist.
Weber behauptet, dass der Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums vorwiegend protestantisch sei und dass Protestanten eine eher technische, Katholiken eher eine humanistische Schulbildung hätten. Überdies konstatiert er eine auffallend «geringere Beteiligung der Katholiken am modernen Erwerbsleben in Deutschland». Mit anderen Worten: Während Protestanten eher dem Kapital zugewandt sind, bleiben die Katholiken in diesem Sinne rückständig.
Wie gesagt: Webers These ist bis heute umstritten. Dennoch lässt sich die These nicht so einfach von der Hand weisen. Mit nicht wenigen Ausnahmen, beispielsweise dem deutschen Vorzeigeland Bayern, und anderen sind die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen protestantischen und katholischen Regionen bis heute nicht gänzlich verschwunden. Die untenstehende Grafik illustriert die Arbeitslosenquote nach Regionen in Europa. Eher dem Katholizismus zugewandte Regionen und Länder wie Spanien oder Italien weisen eine höhere Arbeitslosenquote aus als protestantische Regionen.
In seinem Beitrag für die «Finanz und Wirtschaft» verweist der katholische Wirtschaftshistoriker von der Universität Zürich, Tobias Straumann, zudem darauf, dass sich im Verlauf der Eurokrise ein Graben zwischen Nord- und Südeuropa aufgetan habe, der fast vollständig entlang der christlichen Konfessionen verlaufe und verweist auf tiefe historische Wurzeln als Grund für die unterschiedliche Prosperität der Regionen:
«So waren die oberitalienischen Städte zwar im Spätmittelalter auf vielen Gebieten führend, etwa in der Textilproduktion, dem Handel und dem Bankwesen. Aber bereits im 16. Jahrhundert begann der Abstieg. Der Grund war nicht einmal so sehr der relative Niedergang des Mittelmeerhandels, der einsetzte, als Kolumbus in Amerika gelandet und Vasco da Gama Afrika umsegelt hatte, um den Handel mit Indien aufzunehmen.»
«Der Abstieg war vielmehr durch die innere Entwicklung Italiens bedingt. Die Stadtstaaten entwickelten sich zu regionalen Fürstentümern, die anfällig waren für Korruption, Monopolwirtschaft und richterliche Willkür. Die Qualität der Institutionen nahm ab. Der Zusammenschluss Nord- und Süditaliens verschärfte dieses Problem, da der feudale Süden keinerlei rechtsstaatliche Tradition kannte. Italien trägt bis heute ein schweres Erbe.»
Korruption, Monopolwirtschaft und richterliche Willkür sind zentrale Faktoren, weshalb eine Region, ein Staat, nicht nachhaltig prosperiert. Webers These muss demnach erweitert werden. Genau das haben die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Daron Acemoğlu und James A. Robinson mit ihrem Buch «Why Nations Fail» getan. Die bisherigen Erklärungen für die Entstehung von staatlichem Wohlstand und Armut, etwa die geographische Lage, Klima, Kultur, Religion oder die Wirtschaftspolitik, seien unzureichend oder fehlerhaft, argumentieren die Autoren in ihrem Bestseller.
Wirtschaftlicher Erfolg hänge in erster Linie von wirtschaftlichen und politischen Institutionen ab, lautet die zentrale Aussage des Buches. Nur ein funktionierender demokratischer und pluralistischer Rechtsstaat sei in der Lage, Ideen und Talente, welche in der Bevölkerung gleichmässig verteilt seien, voll auszuschöpfen. Dabei stufen die Autoren den Zusammenhang zwischen Religion und wirtschaftlicher Potenz als äussert gering ein.
Nichtsdestotrotz hat sich die europäische Wirtschaft regional unterschiedlich entwickelt. «Die Demarkationslinien zwischen den reicheren und den ärmeren Gebieten sind zwar nicht unverrückbar – so sind zum Beispiel in Deutschland und der Schweiz mittlerweile auch katholische Gebiete sehr wohlhabend geworden –, doch sie sind äusserst zählebig», folgert Straubmann. Einzig und allein die Konfession für diese Ungleichgewicht auszumachen, wäre jedoch verfehlt.