Im Vereinigten Königreich haben vor den Wahlen sämtliche Umfragen während Wochen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Konservativen und Labour vorausgesagt. Nach den Wahlen können die Tories einen klaren Sieg feiern. Einmal mehr lagen die Umfragen weit daneben. Warum schneiden die konservativen Parteien in den Umfragen meist schlechter ab als die Progressiven?
Die Demoskopen glauben, eine Erklärung für dieses Phänomen gefunden zu haben: Die Tory-Wähler hätten in den Umfragen ihre Absichten verheimlicht, weil sie sich eigentlich dafür schämten, erklärten sie nach der Wahl auf der britischen Insel.
Nationalkonservativ zu stimmen, scheint peinlich geworden zu sein, etwa so, wie man einst den «Blick» in die NZZ gerollt und beim Betreten eines Sexkinos den Kragen hoch geschlagen hat.
Man kann diese Erklärung natürlich als billige Entschuldigung für professionelles Versagen abtun. Doch nehmen wir einmal an, sie trifft zu. Dann lässt sich daraus eine spannende These über das aktuelle politische Bewusstsein der Menschen in den westlichen Demokratien ableiten.
Sie geht wie folgt:
Wir leben in einer Wendezeit und ahnen, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, wenn wir den Planeten nicht zerstören wollen. Die Anzeichen für diesen Wandel können nur noch von Volltrotteln ignoriert werden:
Keines dieser Probleme lässt sich in das klassische links-rechts-Schema einordnen. So hat gerade kürzlich der Silicon Valley-Milliardär und Erzkapitalist Elon Musk eine neue Batterie für ein dezentrales Energiesystem vorgestellt.
In der Schweiz plädiert der ETH-Professor Anton Gunzinger für ein nachhaltiges Energiesystem auf marktwirtschaftlicher Basis. Mit guten Gründen: Der französische Atomkrafthersteller Areva überlebt nur dank staatlicher Unterstützung und musste soeben einen weiteren Stellenabbau bekannt geben. Atomenergie ist ein lausiges Geschäft geworden.
Dasselbe gilt für die Ernährung. Bio-Bauern sind oft clevere und erfolgreiche Unternehmer; und milliardenschwere Hedge-Fund-Manager kämpfen nicht selten engagiert gegen Umweltzerstörung und für Biodiversität. Die dritte industrielle Revolution stellt uns zudem die technischen Hilfsmittel zur Verfügung, die es uns erlauben, eine nachhaltige Wirtschaftsordnung ohne Wohlstandsverlust aufzubauen.
Warum greifen wir nicht zu? Weshalb verfallen wir immer wieder in alte Denkschemen, wohl wissend, dass sie keines der drängenden Probleme lösen können?
Eine mögliche Antwort liefert der vom Psychologen Walter Mischel entwickelte «Marshmallow»-Test:
Die Ergebnisse des Marshmallow-Tests sind eindeutig: Kinder, die widerstehen, sind später im Leben erfolgreicher, zuerst in der Schule und später im Berufsleben. Die Fähigkeit, widerstehen zu können, ist den erfolgreichen Kindern jedoch nicht angeboren. Sie können sich beherrschen, weil sie über Strategien verfügen, der Versuchung ein Schnippchen zu schlagen. Sie lenken sich ab, singen, oder machen für sich selbst Gedankenspiele.
Übertragen auf die Gesellschaft bedeutet dies: Wir sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, den politischen Marshmallow-Test zu bestehen. Wir wissen zwar, dass wir uns beherrschen sollten. Doch wir haben keine Strategien mehr, um der Versuchung zu widerstehen.
In den Umfragen lehnen wir daher die Parteien ab, die alte Lösungen präsentieren. Beim Ausfüllen des Wahlzettels ändern wir unsere Meinung.
Wir erleben täglich, wie Manager, Spitzensportler und Politiker rund um uns herum Marshmallows im grossen Stil abräumen. Warum also sollten wir uns zurückhalten? Geniessen wir das billige Benzin, das billige Schnitzel und den billigen Urlaubstrip, solange es sie noch gibt.
Wir läuten das Glöcklein und vertilgen das Marshmallow. Das mag psychologisch verständlich sein. Für die Zukunft verspricht es wenig Gutes.