Wirtschaft
Gesellschaft & Politik

Als Bettler am WEF: «Sind Sie psychisch krank?» 

Kapuzenpulli statt Anzug: Thomas Schlittler als Bettler.
Kapuzenpulli statt Anzug: Thomas Schlittler als Bettler.bild: Schweiz am Sonntag
Kapuzenpulli statt Anzug

Als Bettler am WEF: «Sind Sie psychisch krank?» 

Was passiert, wenn man bei den Reichen und Mächtigen um Almosen bittet? Ein Selbstversuch unseres WEF-Reporters. 
25.01.2015, 16:5618.02.2015, 15:29
Thomas Schlittler / nordwestschweiz
Mehr «Wirtschaft»
Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

Am Samstagmorgen, 10.30 Uhr an der Davoser Promenade. Das Weltwirtschaftsforum WEF neigt sich dem Ende zu. Vier Tage lang haben Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik über die drängendsten Probleme diskutiert – auch über die Schere zwischen Arm und Reich. Grosse Worte sind gefallen – doch wie hilfsbereit und solidarisch sind die WEF-Teilnehmer ausserhalb des Kongresszentrums? Ich will es herausfinden und setze mich mit Bettelschild und Pappbecher an den Strassenrand – zwischen dem Luxushotel Belvédère und dem Kongresszentrum. 

Ich trage eine alte Trainerhose, Kapuzenpulli, Wollmütze und ausgelatschte Halbschuhe. In den Händen halte ich ein Kartonschild, auf dem mit Grossbuchstaben steht: «MAKE A BETTER WORLD: GIVE ME A PENNY FOR A PIZZA». Den Pappbecher stelle ich vor mir auf den Boden. Eine junge Frau lächelt mich etwas verlegen an und schüttelt entschuldigend den Kopf. Eine ältere Dame verlangsamt ihren Gang und studiert mein Schild. Dann läuft sie weiter, schaut aber noch zwei, drei Mal irritiert zurück. Die meisten Leute gehen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. 

Nur eine Viertelstunde ist vergangen, da nähert sich auf der anderen Strassenseite ein Polizist in blauer Uniform. Er liest mein Schild, geht dann aber zurück zum Eingang des Kongresszentrums. Zwei Minuten später kehrt er mit drei Kollegen im Schlepptau zurück. Sie sind von der Kantonspolizei Zürich, wie ihre Uniformen verraten. «Haben Sie Hunger?», fragt mich der eine leicht abschätzig. Und sein Kollege sagt: «Stehen Sie bitte mal auf.» 

Ich tue, wie mir befohlen, und frage den Wortführer: «Habe ich etwas Falsches getan?» Keine Antwort. Stattdessen erklärt er mir, dass sie eine Personenkontrolle durchführen wollen. «Haben Sie einen Ausweis dabei?» Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Hosentasche und gebe ihm meinen Führerausweis. «Bitte leeren Sie Ihre Taschen.» Ich lege mein Portemonnaie, mein Handy, eine Schachtel Zigaretten und den Hausschlüssel auf den Holzsockel, auf dem ich gesessen habe. «Das Handy bräuchte ich auch», sagt mir der Polizist, der bereits meinen Ausweis in der Hand hat. «Wieso?», frage ich. Er: «Wir wollen überprüfen, ob es als gestohlen gemeldet ist.» 

«Wir wollen überprüfen, ob es als gestohlen gemeldet ist.» 

Während der eine per Funk meine Personalien prüfen lässt, löchern mich die anderen mit Fragen: 

«Hatten Sie schon mal Probleme mit der Polizei?» – «Nein.» «Wo wohnen Sie?» – «In Winterthur.» 
«Haben Sie einen Job?» – «Nein, ich bin arbeitslos.»
«Beziehen Sie Sozialhilfe?» – «Nein.» 
«Wovon leben Sie dann?» – «Meine Eltern unterstützen mich.»
«Wo leben Ihre Eltern?» – «In der Ostschweiz.»
«Haben Sie mal einen Beruf gelernt?» – «Ich habe einen KV-Abschluss.» 

Plötzlich ruft ein Polizist triumphierend dazwischen: «Sie haben ja Geld!» Er hat mein Portemonnaie von vorne bis hinten auseinandergenommen und dabei 40 Franken entdeckt. «Das reicht nicht weit», sage ich. Er: «Zumindest reicht das locker für eine Pizza.» 

Ich will mir eine Zigarette anzünden. «Bitte lassen Sie das», sagt mir einer der Polizisten. Während mich drei der vier Herren relativ respektvoll behandeln, ist der vierte auf Angriff aus: «Sind Sie psychisch krank?» – «Nein.» 

Jetzt auf

«Was ist denn sonst los mit Ihnen? Keine Motivation?» – «Ja.» 

«Dann sind Sie also doch psychisch krank, oder?» – «Das ist eine Definitionsfrage.» «Also meiner Meinung nach ist das psychisch krank. Am besten suchen Sie sich einen guten Arzt.» 

«Also meiner Meinung nach ist das psychisch krank. Am besten suchen Sie sich einen guten Arzt.» 

Nach 10, 15 Minuten sind die Abklärungen per Funk zu Ende. «Alles sauber», sagt der Wortführer und gibt mir den Ausweis zurück. «In Zürich hätten Sie nun eine Anzeige am Hals. Hier in Davos kennen wir aber die Rechtslage nicht. Sie können gehen.» Und dann, in freundlicherem Ton: «Wenn Sie kein Geld haben, sind Sie ja eigentlich ein armer Kerl. Aber betteln ist verboten.» 

Sie nehmen mir das Schild und den Pappbecher weg. Geld ist keines zusammengekommen. Ich laufe davon. Mein WEF ist zu Ende. 

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
25 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Profotos
25.01.2015 19:54registriert Oktober 2014
Mir ist fast das selbe vor 3 Jahren am WEF passiert... Ich war für die Indische Handelskammer als Fotograf unterwegs und hatte gerade den Auftr gefasst, Bilder der Stadtbusse zu schießen als ich von 2 äußerst höflichen Herren in Uniform angehalten wurde. Da ich ein bisschen Schnee auf meinen Bildern wollte, habe ich die Bilder im liegen geschossen. Zu meinem Pech war den Ordnungshütern langweilig und sie gingen davon aus, dass ich die Bilder der Busse gezielt von unten machen würde um, ohne zu lügen: die von mir befestigten Sprengsätze fotografisch zu kontrollieren. So weit so gut... Auf meinen Lachanfall hin wurde eine Einsatztruppe von 10 Aspiranten beordert mich zu umstellen und mich auf offener Straße vor meinem Hotel, indem sich mein Personalausweis sowie der Presseausweis befanden, für ca. 30 Minuten festzuhalten. Ich kam mir vor wie ein Superschurke der gerade Gottham City in Schutt und Asche verwandelt hatte. Als der Spiderman in Anzug meine Kamera durch sah, fiel im auf, dass das Datum meines Fotokastens auf den Fotos nicht das aktuelle war sondern ein paar Jahre früher (das Grunddatum der Kamera). Was ihn dazu veranlasste den Speicherchip zu beschlagnahmen.... Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht zurück in der Einsatzzentrale des CII (Confederation of Indian Industries) war, machte sich mein Betreuer auf, mich zu suchen. Dass er dafür nur vor die Hoteltüre treten musste und mich im T-Shirt umzingelt von einer Horde wütender Gremlins wiederfinden würde, ließ ihn erstarren. Nach wenigen Minuten dürfte ich dann endlich meine sieben Sachen zusammen packen und ein einfachen "sorry" vom Einsatzleiter der "Avengers" genügte anscheinend für die Stundenlange Peinigung!
755
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bowell
25.01.2015 18:27registriert Mai 2014
Wow...was für eine Aktion. Und was haben wir gelernt? Nichts. Wenn das Ziel war für Empörung zu sorgen ist es gründlich misslungen.
Ich gebe Bettlern in der Schweiz grundsätzlich nie Geld, da unser Sozialstaat ziemlich jeden auffängt der Hilfsbedürftig ist.
6426
Melden
Zum Kommentar
avatar
street21
25.01.2015 17:58registriert Februar 2014
In der Schweiz muss niemand hungern, desshalb die Reaktionen der Passanten ein bisschen verständlich. Aber trotzdem erschreckend wie man als Bettler behandelt wird...
5014
Melden
Zum Kommentar
25
Jeder Zehnte in der Schweiz hat Mühe, finanziell über die Runden zu kommen
Im Jahr 2022 hat die Schweiz gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) die höchste Lebenszufriedenheit aller europäischen Länder aufgewiesen. Seit 2014 hat sich diese kaum verändert. Dennoch lebte fast jede zehnte Person in finanziellen Schwierigkeiten.

Die Lebenszufriedenheit in der Schweiz ist im europäischen Vergleich konstant hoch und erreichte 2022 sogar den höchsten Wert aller europäischen Länder. Dennoch hatte fast jede zehnte Person Schwierigkeiten, finanziell über die Runden zu kommen, und 4,9 Prozent der Bevölkerung mussten aus finanziellen Gründen auf wichtige Güter, Dienstleistungen und soziale Aktivitäten verzichten. Die Armutsquote betrug 8,2 Prozent, wie aus der Erhebung 2022 über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) des Bundesamtes für Statistik (BFS) hervorgeht.

Zur Story