Thomas Pikettys kürzlich erschienenes Buch heisst «Das Kapital im 21. Jahrhundert» und gilt bereits jetzt als das bedeutendste Werk der modernen Ökonomie. Die Kernthese des französischen Professors lautet: Die bereits bestehende Ungleichheit wird sich noch verstärken. Der Glaube, dass der freie Markt stets die Tüchtigen belohnt und immer wieder neue Leistungsträger an die Spitze spült, ist falsch.
Mit einer Fülle von Daten weist Piketty nach, dass die Gewinne aus Kapitalanlagen schneller wachsen als die Einkommen.
Geht diese Entwicklung so weiter, so Piketty, dann wird zwangsläufig eine neue Plutokratie entstehen, eine Welt, die von einem kleinen, superreichen Geldadel regiert wird.
Pikettys Buch wird in der Fachwelt sehr wohlwollend kommentiert. Von einer «Wasserscheide im ökonomischen Denken» spricht beispielsweise Branco Milanovic in der «New York Times». Die grosse Aufmerksamkeit, die Pikettys Werk weltweit auslöst, ist jedoch mehr als Anerkennung der Fachkollegen. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass sich bei den Ökonomen ein Sinneswandel abzeichnet.
Die Euphorie des freien Handels und der Globalisierung schwindet. Ins Zentrum der volkswirtschaftlichen Diskussion rückt die Frage der sozialen Ungleichheit und ihrer Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft.
Paul Krugman ist ein typisches Beispiel für diesen Sinneswandel. Der Nobelpreisträger und wohl bekannteste Wirtschaftskolumnist der Welt ist zwar ein linksliberaler Keynesianer. Trotzdem hat er lange für die Abschaffung von Handelsschranken gekämpft und sich tapfer bemüht, das Gesetz des komparativen Vorteils auch wirtschaftlichen Laien klar zu machen.
Inzwischen hat Krugman den Glauben an die Globalisierung verloren. Ein mögliches Scheitern des geplanten Freihandelsabkommens der Vereinigten Staaten mit Asien – TTP abgekürzt – nimmt er achselzuckend hin. «Weinen Sie dem TTP keine Träne nach», stellte er kürzlich in seiner Kolumne in der «New York Times» fest.
Zu den Zweiflern gehört auch Dani Rodrik, einst Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und heute Professor an der Princeton University. In seinem Buch «Das Paradox der Globalisierung» rechnet er mit der Hyperglobalisierung ab. Die Globalisierung wurde allmächtig und zwang alle Nationen, dieselbe Strategie zu verfolgen:
Der ungebremste Freihandel führt gemäss Rodrik nicht zu mehr Wohlstand für alle, sondern zu einem «Trilemma der Globalisierung». Das bedeutet, dass ein Staat nicht mehr gleichzeitig demokratisch, unabhängig und fest in den globalen Welthandel eingebunden sein kann. Er muss sich für zwei dieser drei Kriterien entscheiden. Das «Trilemma der Globalisierung» zwingt viele Staaten, ihre Unabhängigkeit aufzugeben und sich – vor allem was Steuern und Umweltauflagen betrifft – dem Diktat von multinationalen Konzernen zu unterwerfen.
Dank Big Data kann heute das Tauschverhalten von Menschen sehr präzise erforscht werden. Dies tut beispielsweise Alex Pentland am MIT Media Lab, dem wohl berühmtesten Labor für Zukunftsforschung. Mit speziell präparierten Smartphones sammelt er Unmengen von scheinbar belanglosen Daten und kann so ein Muster des Tauschverhaltens erstellen.
Erste Ergebnisse hat er soeben in seinem Buch «Social Physics» vorgestellt. Pentlands zentrale Erkenntnis lautet: Nicht der Markt bestimmt primär das Tauschverhalten der Menschen, sondern ein funktionierendes Netzwerk von Gleichgesinnten. Soziale Medien wie Facebook und Twitter werden diese Tendenz künftig noch verstärken.
Soziale Netzwerke funktionieren nur, wenn sich die Teilnehmer gegenseitig vertrauen. Genau dies ist in einer globalisierten Wirtschaftsordnung nicht der Fall. Sie hat sich weit von den Bedingungen entfernt, unter denen Adam Smith die theoretischen Grundlagen der Marktwirtschaft formuliert hat.
«Adam Smith ist davon ausgegangen, dass die Härten der unsichtbaren Hand durch den Gemeinschaftsdruck der Gleichgesinnten gemildert wird», stellt Pentland fest.
Mit Hilfe von Big Data kann Pentland nachweisen, dass Märkte nur dann für mehr Wohlstand für alle sorgen, wenn sie in Gemeinschaften eingebettet sind und auf gegenseitigem Vertrauen beruhen. Daher zieht er die logische Folgerung: «Wenn wir eine faire und stabile Gesellschaft wollen, dann müssen wir uns nach Netzwerken umschauen, in denen die Menschen tauschen können und nicht nach anonymen, globalen Wettbewerbsmechanismen.»
Piketty, Krugman, Rodrik und Pentland kommen alle zum gleichen Schluss: Eine schrankenlose Globalisierung führt nicht zu mehr Wohlstand, sondern zu einer Destabilisierung der Gesellschaft. Die Löhne des Mittelstandes stagnieren oder fallen gar, die Gefahr von Arbeitslosigkeit steigt und die Umweltschäden nehmen zu. Von den Gewinnen der Globalisierung profitiert einzig eine schmale Elite, die den Kontakt zum Mittelstand verloren hat und alle Anzeichen eines dekadenten Geldadels aufweist.
Nicht nur in der ökonomischen Theorie, auch in der politischen Praxis ist der Backlash gegen die Globalisierung in vollem Gang. Über Mindestlöhne und mehr Gerechtigkeit wird nicht nur in der Schweiz, sondern etwa auch in Deutschland und den USA heftig gestritten. Auch die Zustimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative wird zu Recht als Protest gegen die Hyperglobalisierung interpretiert.
Mit der Mindestlohninitiative steht nun die nächste Runde bevor. Dabei geht es um mehr als ein angeblich vom Ruin bedrohtes Kleingewerbe, wie uns der «Blick» und andere Medien weismachen wollen. Über die kurzfristigen wirtschaftlichen Folgen eines gesicherten Mindestlohnes gibt es keine wissenschaftlich gesicherten Aussagen.
Langfristig hingegen steht viel mehr auf dem Spiel. Es gilt zu verhindern, dass wieder ein neuer globaler Geldadel entsteht und es geht darum, die im zerstörerischen Standortwettbewerb verlorene nationale Autonomie wieder zurückzugewinnen.