Rrrrrumms! Das Ende seines Solos hat sich Claudio Caniggia bestimmt anders vorgestellt. Nach einem Ballgewinn am eigenen Strafraum läuft der argentinische Starstürmer auf und davon, an einem Kameruner vorbei und am nächsten. Das Eröffnungsspiel ist kurz vor dem Ende, Titelverteidiger Argentinien droht eine peinliche 0:1-Niederlage.
Nun hat der pfeilschnelle Caniggia viel Platz vor sich – aber den wackeren Benjamin Massing neben sich. «Bis hierhin und nicht weiter», scheint sich der Afrikaner zu denken. Und er säbelt Caniggia mit einem Foul um, das seinesgleichen sucht.
Als der Argentinier seine Knochen durchgezählt hat, ist Massing, der mittlerweile verstorben ist, längst geduscht. Der französische Schiedsrichter Vautrot hat gar keine andere Wahl, als ihm Rot zu zeigen.
Es ist bereits der zweite Platzverweis gegen einen Kameruner, nach einer Stunde muss André Kana vom Feld. Doch weil bereits die letzte Spielminute angebrochen ist, richtet Massings Ausscheiden keinen Schaden mehr an.
Die Sensation ist perfekt: Die «unzähmbaren Löwen» schlagen das von Diego Maradona angeführte Argentinien mit 1:0. François Omam-Biyik steigt in der Mitte höher als sein Gegenspieler und Goalie Nery Pumpido sorgt dafür, dass ich in meinem Panini-Album das «do» durchstreiche und ihn nur noch als «Pumpi» bezeichne.
Trotz ihrer rustikalen Art und Weise – die Kameruner treten bisweilen nach allem, was nicht bei drei auf dem Baum ist – werden sie sofort zu den grossen Publikumslieblingen. Legendär das Bonmot des deutschen Kommentators Marcel Reif: «Ich darf als Reporter ja nicht parteiisch sein. Ich will auch nicht parteiisch sein – aber lauft, meine kleinen schwarzen Freunde, lauft!»
Kamerun schlägt danach auch Rumänien und zieht in die Achtelfinals ein. Beide Treffer beim 2:1-Sieg gegen die Osteuropäer erzielt Roger Milla. Der 38-Jährige trifft auch im Achtelfinal gegen Kolumbien doppelt – eines seiner Tore gehört zu den berühmtesten WM-Toren überhaupt. Milla luchst dem extravaganten Goalie René Higuita weit ausserhalb des Strafraums den Ball ab und skort den 2:1-Siegtreffer.
Seine Tore feiert Milla jeweils mit einem Tänzchen an der Eckfahne. Dieses ist bis heute legendär und schon damals ein Sinnbild für die Spielfreude der Afrikaner.
Erst im WM-Viertelfinal ist für Kamerun Schluss. England kommt mit Müh' und Not zu einem 3:2-Sieg nach Verlängerung. Doch der wahre Sieger, so sehen es in diesen Tagen in Italien viele, ist der afrikanische Fussball. Es werde nun nicht mehr lange gehen, bis das erste Team vom schwarzen Kontinent um den WM-Titel mitspielen könne, lautet der Tenor.
Aber dieser Traum hat sich bis heute nicht erfüllt. Weiter als Kamerun ist erst ein afrikanisches Team gekommen: Marokko stürmte 2022 an der WM in Katar bis in den Halbfinal.