Twitter wird in Russland derzeit künstlich verlangsamt. Verbotene Inhalte seien nicht gelöscht worden, lautet die Begründung des Kreml. Auch gegen Tiktok wird vorgegangen. Diese Plattform ist vor allem bei Jugendlichen sehr beliebt – und gerade deswegen den Behörden ein Dorn im Auge. «Rund um die Proteste gegen die Inhaftierung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny warfen sie dessen Team vor, Minderjährige zur Teilnahme an den verbotenen Demonstrationen verleiten zu wollen», berichtet der «NZZ»-Korrespondent Markus Ackeret aus Moskau.
Die Jugendlichen, die an den Demonstrationen der letzten Wochen teilnahmen, wurden mit selbst für Russland ungewöhnlicher Härte angefasst. Insgesamt wurden mehr als 11’000 Personen in 125 Städten verhaftet und teils massiv misshandelt. «Jetzt fürchten wir uns, selbst wenn wir uns untereinander unterhalten», erklärt der 19-jährige Artem Berlin gegenüber der «Financial Times». Er wurde im Januar von der Polizei aufs übelste verprügelt.
All dies ist kein Zufall. Andrei Kolesnikow, Vorsitzender des Programms für russische Politik am Carnegie Moscow Center, erklärt ebenfalls gegenüber der «Financial Times»: «Putin hat immer die Politik der eisernen Faust eines mächtigen Staates verfolgt. Vielleicht war er stets brutal, aber nun hat er sich entschlossen öffentlich und ohne Hemmungen brutal zu sein.»
Ein Grund für Putins offene Brutalität ist die missliche wirtschaftliche Lage. Anders Aslund, ein schwedischer Ökonom und profunder Kenner Russlands, hat diese kürzlich in einem Gastbeitrag in der «NZZ» wie folgt zusammengefasst:
Wie wir alle leiden auch die Russen unter der Coronakrise. Dazu kommen die Sanktionen des Westens, die nach wie vor in Kraft sind. Doch hauptsächlich ist die wirtschaftliche Misere hausgemacht. Putin hat sein Land als «Tankstelle der Welt» positioniert und damit den Wohlstand seiner Bürger zu einem grossen Teil vom Ölpreis abhängig gemacht. In den letzten Jahren ist dieser Preis teilweise weit unter 50 Dollar pro Fass gefallen.
Dabei war es eben dieser Ölpreis, der einst zu Putins Beliebtheit in der Bevölkerung geführt hatte. Mit seinem Amtsantritt als Präsident im Jahr 2000 begann dieser Preis auf wundersame Art zu steigen und erreichte bis zu 150 Dollar pro Fass. Dieser Geldsegen machte es möglich, dass sich nicht nur die Oligarchen mästen konnten, sondern auch für die normale Bürgerin und den normalen Bürger etwas übrig blieb. Putin wurde deswegen sehr beliebt, zumal er auch das Chaos der Jelzin-Regierung rasch und konsequent beendet hatte.
Nach der Finanzkrise 2008 fiel der Ölpreis wie ein Stein. Aus Putin, dem spendablen Onkel, wurde Putin, der militante Nationalist. Russische Panzer rollten zuerst in Georgien ein, danach in der Krim und in der Ost-Ukraine. Russische Jets bombardierten derweil die Zivilbevölkerung in Syrien. Auch das gefiel den Russen, zumindest anfänglich. Es gab ihnen ein bisschen des lange vermissten Grossmacht-Gefühls zurück.
Davon ist derzeit wenig zurückgeblieben. Die Russen leiden unter der wirtschaftlichen Misere, und Putins Beliebtheit befindet sich im freien Fall. Jüngste Umfragen zeigen, dass der Präsident nur noch eine Zustimmungsrate von 59 Prozent aufweist, ein historischer Tiefstwert. Nur knapp 30 Prozent der Bevölkerung wollen ihre Stimme der Putin-Partei «Einiges Russland» geben.
Im Kreml schrillen daher alle Alarmglocken, denn im September werden die Mitglieder der Duma, des russischen Parlaments, neu gewählt. Dabei will Putin nichts anbrennen lassen. Er lässt nicht nur Demonstranten verprügeln, er unterbindet systematisch jede oppositionelle Regung. Deswegen hat die Polizei kürzlich eine Konferenz liberaler Politiker unter dem Vorwand der Verletzung der Hygieneregeln aufgelöst.
Dank eines neuen Gesetzes kann Putin auch missliebige Politiker jederzeit als «ausländische Agenten» deklarieren und sie so von den Wahlen ausschliessen. Auf diese Weise kann er nicht nur seine Partei, sondern auch seine Opposition steuern. Diese «gelenkte Demokratie» erinnert stark an das «Flötenmodell» der ehemaligen DDR. Auch die kommunistische Partei SED hatte ihre Schein-Oppositionspartei CDU fest im Griff.
Ein weiteres Gesetz, das kürzlich beschlossen wurde, erlaubt es Beamten, nach Erreichen des 65. Lebensjahrs weiter im Dienst zu bleiben. Damit will Putin nicht etwa das Los armer Pensionisten lindern, sondern die Macht der Siloviki stärken. So werden die ehemaligen KGB-Agenten genannt, die heute noch das Rückgrat von Putins Macht bilden. Mit der Verlängerung ihrer Amtszeit fördert Putin eine Vergreisung der russischen Elite, welche an die letzten Tage der UdSSR erinnert.
Die Siloviki sind auch die Treiber der neuen Brutalität. In alter Sowjetmanier wollen sie die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen und damit ruhig halten. «Die Brutalität nimmt zu, ebenso die Agressivität gegenüber Oppositionellen», klagt Kolesnikow. «Und es wirkt, es wirkt.»
Allerdings: Ob diese Wirkung nachhaltig ist, wird sich weisen müssen. Putin verliert nicht nur die Unterstützung der Jungen, er verliert auch Einwohner. Russische Frauen wollen keine Kinder und junge Russen wandern aus, wenn sich ihnen eine Gelegenheit bietet. Deshalb ist die russische Bevölkerung im vergangenen Jahr um 700’000 Menschen geschrumpft.
Der bekannteste russische Oppositionelle, Alexei Nawalny, ist inzwischen in ein Straflager verbannt worden. Damit hat Putin klar gemacht, dass «Nawalny und seine Anhänger nicht mehr bloss unterdrückt werden. Sie werden nun zum Schweigen gebracht», wie die «Financial Times» feststellt.
Nawalny hingegen sieht dies ganz anders. In seiner Rede vor dem Gericht erklärte er: «Sie sperren eine Person ein, um Millionen einzuschüchtern. Mit diesen Schauprozessen wollen sie die Menschen zum Schweigen bringen. Doch das ist keine Demonstration der Macht, es ist ein Zeichen der Schwäche. Man kann nicht ein ganzes Land einsperren.»
Man sollte die Dinge beim Namen nennen, denn zur Zeit ist Russland nichts anderes als eine Diktatur.
Der KGB-Gnom strebt ja nur eifrig seinem grossen Vorbild nach.
Ich hoffe diese Schreckensherrschaft, diese Schein- oder Diktatur-Demokratie hat bald ein Ende...